Alkohol und Corona
Glühwein hier, Anstoßen da. Alkoholkonsum ist vor allem um die Feiertage herum ein Dauerbrenner. Und wird während Corona-Lockdown-Phasen messbar mehr konsumiert.
Ludwig Binder, seines Zeichens Diplom-Sozialpädagoge, ist Suchttherapeut und Geschäftsführer bei Neon. Im Gespräch verrät er uns, wieso er der Meinung ist, wir sollten uns einfach mal locker machen, worum es beim Trinken wirklich geht und was zu tun ist, wenn es doch mal schwieriger wird.
Ludwig, während des Corona-Lockdowns im Frühjahr gingen die Konsumentenzahlen – bemessen an den Einkäufen – steil nach oben. Hast du als Experte auch eine Entwicklung bemerkt?
Ja, habe ich. Zum Beispiel bei mir selbst. Auch bei mir ist der Konsum dieses Rauschmittels gestiegen. Warum? Weil ich während des Lockdowns einfach mehr Zeit hatte. Und so ist 80% der Bevölkerung ergangen.
Trinken aus Langeweile ist aber nur ein Thema von vielen. Vor allem in den Lockdown-Phasen spielen zusätzlich eine höhere seelische Belastung, fehlende soziale Kontrolle und ein vielleicht schon vorher „antrainiertes“ Suchtpotenzial eine Rolle.
Hältst du diese Entwicklung für bedenklich?
Das muss man immer ins Verhältnis setzen und vor allem im Einzelfall sehen, was genau der Grund fürs Trinken ist. Generell kann eine Alkoholabhängigkeit sehr gut überwunden werden. Mindestens 2/3 aller Alkoholsüchtigen überwinden ihren kritischen Konsum selbst und trinken anschließend wieder in einem genussorientierten Rahmen. Es wird viel zu viel aufs Trinken an sich geguckt. Dabei sind die Gründe dahinter viel bedeutender. Vor allem, wenn man die Abhängigkeit überwinden möchte.
2/3 der trinkenden Bevölkerung schafft es, allein durch Förderung und Forderung der Selbstverantwortlichkeit aus einem riskanten Konsum heraus die Sucht zu überwinden.
Ab wann spricht man denn eigentlich von Abhängigkeit?
Der Terminologie nach gilt jeder als abhängig, der Rauschmittel wie beispielsweise Alkohol konsumiert. Wichtig ist, dass wir in Bezug auf Abhängigkeit weg von diesem Bild des Alkoholkranken kommen, der bereits alles verloren hat, quasi obdachlos und fertig mit der Welt ist. Nein. Alkoholabhängigkeit ist viel banaler und betrifft mich und dich. Eine medizinisch diagnostizierte Alkoholsucht ist schon das Ende der Fahnenstange und betrifft etwa 10% der konsumierenden Bevölkerung.
Die medizinischen Richtwerte für ungefährlichen Alkoholgenuss liegen für Männer bei maximal einem halben Bier oder 0,2 Liter Wein am Tag. Für Frauen gilt die Hälfte dieser Richtwerte. Gleichzeitig ist es meiner Meinung nach ein Trugschluss zu glauben, der einzige Weg der Besserung müsse darin bestehen, nie wieder zu trinken. Das ist in den seltensten Fällen die Erfolgsformel. Die Heilung muss in der Überwindung liegen – und das ist meiner Erfahrung nach auch der Normalfall. Das heißt, dahin zu finden, Alkohol in einem genüsslichen Rahmen zu konsumieren.
Die Heilung muss in der Überwindung liegen. Das heißt, dahin zu finden, Alkohol in einem genüsslichen Rahmen zu konsumieren.
Aber die Grenzen zu Genuss und Schräglage sind ja fließend. Ab welchem Punkt ist es sinnvoll, zu reflektieren, dass es ein Problem geben könnte?
Man muss zunächst in der Begrifflichkeit differenzieren. Es geht ja nicht um „Suchtmittel“, sondern um „Rauschmittel“. Diese befördern nicht gleich Sucht, sondern erzeugen einen Rausch. Und Rausch ist prinzipiell etwas Wunderbares mit hoher Qualität fürs Leben. Diese Definition von Rausch beginnt bereits bei noch kaum wahrnehmbaren Veränderungen der Psyche, beispielsweise Entspannung und meint eben nicht den Exzess.
Das Trinken an sich wird immer dann erst zum Problem, wenn es kein Genuss mehr ist. Auch das Trinken in unangemessenen Situationen wie im Straßenverkehr, beim Sport oder bei der Arbeit ist problematisch.
Wenn du sagst, Rausch an sich ist etwas Wunderbares, würdest du also empfehlen, sich ab und an diesen Rausch zu gönnen?
Mal umgekehrt formuliert: Das pure Nüchterne könnte man unter Umständen auch als ungesund ansehen – zumindest dann, wenn es zwanghaft wird. Was sagt es also über einen Menschen aus, wenn er sich niemals einen Rausch gönnt?
Und was, wenn es dann doch problematisch wird?
Wenn es kein Genuss mehr ist, schaut man genauer hin: Welche Form von Problem ist es? Wenn ich mich beispielsweise mit Ach und Krach mit meinem Partner streite, anschließend einen über den Durst trinke und am nächsten Tag verkatert zur Arbeit komme, ist das immer noch kein Suchtproblem. Aber es war durchaus ein riskanter Konsum. Bleibt es bei diesem einen Mal? Wirft es mein Leben nicht aus der Spur. Wird dieses Verhalten zum Muster? Zieht das schon größere Kreise.
Der Mensch trinkt nicht fünf halbe Biere, weil es so toll ist. Sondern er trinkt diese fünf halben Biere, damit es wieder toll ist.
Sind eben jene Menschen, denen es schwerfällt, die Balance zwischen Genuss und Exzess zu halten, diejenigen, die zu euch kommen?
Vor allem diese Menschen sind es, die wir erreichen möchten. Eben nicht (oder nicht hauptsächlich) diejenigen, die salopp gesagt schon reif für die Klinik sind. Das Trinken ist ein Symptom einer Ursache beziehungsweise der Lösungsversuch für etwas – wie zum Beispiel für Stress, Überlastung, Trauer, Verdrängung oder eben Langeweile. Dann wird es zur Selbstmedikation mit dem Ziel, am Ende eines Tages seelisch stabil und ausgeglichen bin. Ich glaube, die meisten von uns haben das schon einmal erlebt. Die „Kunst“ dabei ist es, dieses Konsumverhalten auch wieder zurückschrauben und sich in seiner Selbstregulation einstellen zu können.
Es gibt Menschen mit einer höheren neurobiologischen Toleranz gegenüber Alkoholeffekten. Diese Menschen merken Veränderungen erst nach höherem Konsum – und können tendenziell suchtanfälliger sein.
Und wenn ich nun das Gefühl hab, zu viel zu trinken, den Absprung aber nicht schaffe?
Dann hilft reden, reden und nochmals reden. Sich jemanden anzuvertrauen und das Thema durchzukauen ist eine gute Idee. Man erlebt im Gespräch eine Differenzierung und ist eher im Stande, dysfunktionalen Muster auflösen. Deshalb macht es so Sinn für jeden Menschen, mal therapeutische Erfahrungen gemacht zu haben, weil hier am effizientesten diese Muster durchgearbeitet werden können.
Therapie klingt ja für viele Menschen ja sehr entblößend.
Das Wort Therapie trifft auf eigene Scham- und Angst-Grenzen. Häufig gilt der Glaubenssatz „Therapie mache ich, wenn ich ein Problem habe. Und wenn ich ein Problem habe, bin ich ja krank“. Dabei geht es darum, seine Frustrationen aus eigener Kraft zu bewältigen. Das ist eine sehr gesunde Entscheidung.
Ich denke, dass Menschen, die etwas verändern wollen, über diese Hürde gehen müssen und sich eingestehen, dass vielleicht nicht alles durchweg schön und gut ist.
Übrigens: Selbst sehr gut persönlichkeitsstrukturierte und situierte Menschen, haben innere Baustellen. Ganz einfach, weil das in der Natur des Menschen liegt. Das klassifiziert uns keineswegs in gut oder schlecht. Man muss die Menschen generell besser abholen, um Ihnen die Vorstellung von Therapie zugänglicher zu machen.
Wenn ich merke, dass im Kollegenkreis aufgrund von Alkohol immer weiter abbaut – gibt es Möglichkeiten, Betroffenen zu helfen?
- Schritt 1
Ich empfehle, die betroffene Person auf das anzusprechen, was sie eh schon weiß. Nämlich, dass es gerade offenbar nicht ganz so rund läuft. Schildere deine Beobachtungen und Sorgen und biete deine Hilfe an. Betroffene, die im Gespräch auf die Art und Weise von außen mit Defiziten in der Arbeit konfrontiert wurden, empfinden einen Anstoß im Inneren. Das fördert Selbstverantwortung und Selbstheilung.
- Schritt 2
Akzeptiere aber auch, wenn der Betroffene sich nicht helfen lassen möchte. Wende dich mit dem Anliegen an deinen Teamleiter. Wichtig: Sage Sie nicht „Person X ist Alkoholiker und kriegt nichts auf die Reihe“. Sage eher „Mir ist aufgefallen, dass Person X seit einiger Zeit nicht mehr ausreichend bei der Sache ist, sein Pensum nicht schafft und das von Kollegen abgefedert werden muss“.
- Schritt 3
Daraufhin sollte sich die Teamleitung direkt an den Betroffenen wenden – wieder mit der Aussage „Ich bin von Ihnen anderes gewohnt, Sie waren bisher immer zuverlässig. Seit einiger Zeit ist das nicht mehr so. Ich mache mir Sorgen um Sie. Was brauchen Sie denn, damit Sie hier wieder bei der Sache sein können?“.
Die betroffene Person bekommt durch die offene und ehrliche Konfrontation die Möglichkeit, seine Selbstverantwortung wahrzunehmen. Ob diese Person alleine imstande ist, etwas zu ändern, bei einer Beratungs-Hotline anruft oder sich zu einer Therapie anmeldet: Es liegt in seiner Hand.
Führungskräfte müssen präsent sein, um bei Betroffenen im betrieblichen Umfeld die Übernahme der Selbstverantwortung fördern und fordern.
Das könnten Sie sagen: „Ich habe die volle Zuversicht, wenn Sie etwas verändern wollen, dann werden Sie es auch schaffen. Und wenn Sie etwas von mir dafür brauchen, dann lassen Sie es mich wissen“.
Gibt es denn Dinge, die Konsumenten im hier und jetzt ganz für sich alleine tun können – auch hinsichtlich der anstehenden Feiertage?
Man kann eine Art Genusstraining machen. So funktioniert es: Stelle dir Regeln auf in Bezug auf Häufigkeit und Dosis. Versuche dir innerhalb dieser Regeln genussorientierte Rituale zu schaffen. Achtung: Es geht um den Rausch. Nicht ums Besoffensein. Das wäre Exzess.
Konsumiere Rauschmittel so, dass du eben keine Probleme daraus ziehst, sondern bestenfalls positive Effekte wie Beruhigung, Angsthemmung und Bewusstseinserweiterung. Genieße maßvoll und fördere deine Kompetenz darin.
Ludwig, ich danke dir für das Gespräch!
von Jana Lorenz