Kinder pflegebedürftiger Eltern sind grundsätzlich verpflichtet, Unterhalt zu leisten. Zum 01.01.2020 ist das Angehörigen-Entlastungsgesetz in Kraft getreten. Was sich ändert und was Sie jetzt tun sollten, haben wir mit unserem Kooperationspartner und Familienanwalt Jörn Hauß besprochen.
Das Interview führte Nicole Beste-Fopma
Herr Hauß, vor einigen Jahren hatten Sie uns bereits umfassend über das Elternunterhaltsgesetz informiert. Jetzt gibt es gute Neuigkeiten für alle Beteiligten. Am 01. Januar 2020 ist das Angehörigen-Entlastungsgesetz in Kraft getreten. Was genau ändert sich?
Zukünftig werden Kinder nur dann zu Unterhaltsleistungen für ihre Eltern herangezogen, wenn ihr Jahrsbruttoeinkommen über 100.000 € beträgt. Dabei kommt es ausschließlich auf das Einkommen des Kindes an. Einkommen des Schwiegerkindes sowie das Vermögen der Kinder und der Schwiegerkinder spielt keine Rolle mehr.
Wenn das Einkommen des Kindes 100.000 € brutto pro Jahr überschreitet, wird die Höhe des zu zahlenden Unterhalts nach der bisherigen Berechnungsmethode ermittelt. Allerdings sind die Selbstbehalte auf das Niveau der Jahreseinkommensgrenze von 100.000 € anzupassen und daher auf etwa 5.000 € pro Monat anzuheben. Darüber wird sich die Rechtsprechung in nächster Zeit Gedanken machen müssen.
Gilt das auch, wenn mehrere Kinder für einen Elternteil unterhaltspflichtig sind?
Auch wenn mehrere Kinder ihren Eltern gegenüber unterhaltspflichtig sind, muss nur das Kind Unterhalt zahlen, dessen Einkommen über 100.000 € liegt. Wegen der nach meiner Meinung notwendigen Anpassung des Selbstbehalts auf 5.000 € für ein alleinstehendes Kind und 9.000 € Familieneinkommen bei Zusammenleben mit einem Ehegatten, werden letztendlich nur Kinder aus sehr gehobenen Einkommensverhältnissen belastet.
Wie setzt sich das Einkommen zusammen?
Die Jahreseinkommensgrenze von 100.000 € wird nach rein steuerlichen Gesichtspunkten ermittelt. Fiktive Einkünfte, wie z.B. Wohnvorteile, die bislang die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit stark beeinflusst haben, spielen zukünftig für die Ermittlung der Jahreseinkommensgrenze keine Rolle mehr.
Muss man das eigene Einkommen dem Sozialamt unaufgefordert melden?
Niemand muss dem Sozialamt unaufgefordert Auskunft erteilen. Das Gesetz enthält eine „gesetzliche Vermutung“, dass die unterhaltspflichtigen Kinder ein Einkommen unterhalb der Jahreseinkommensgrenze von 100.000 € erzielen. Diese Vermutung gilt, solange der Sozialhilfeträger keine „hinreichenden Anhaltspunkte“ für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze hat. Solche Anhaltspunkte können aus Angaben der sozialhilfebedürftigen Eltern und aus allgemein zugänglichen Informationsquellen (Social Media, Internet, Presse, Funk und Fernsehen) gewonnen werden. Auch die Zugehörigkeit zu einer besonders einkommensstarken Berufsgruppe kann solche Anhaltspunkte liefern. In diesen Fällen kann der Sozialhilfeträger Auskunft vom unterhaltspflichtigen Kind verlangen. Er muss dann allerdings angeben, aus welchen Gründen er die gesetzliche Vermutung eines unterhalb der Jahreseinkommensgrenze liegenden Einkommens als widerlegt ansieht. Praktisch bedeutet dies, dass von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Sozialhilfeträger zukünftig nicht einmal mehr Auskunft über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der unterhaltspflichtigen Kinder verlangen können.
Da erst am Jahresende feststeht, ob ihr Einkommen die Jahreseinkommensgrenze übersteigt, können alle Unterhaltspflichtigen zum 1.1.2020 ihre Unterhaltszahlungen einstellen. Ein im Jahr 2019 die Jahreseinkommensgrenze übersteigendes Einkommen des Kindes ist zwar ein hinreichender Anhaltspunkt, Auskunft zu verlangen. Unterhalt muss jedoch nicht gezahlt werden, solange nicht klar ist, dass das Einkommen 2020 tatsächlich die Jahreseinkommensgrenze übersteigt.
Kinder mit einem Einkommen von über 100.000 € sollten allerdings den Sozialhilfeantrag ihrer Eltern nicht stellvertretend für diese einreichen. In den neuen Fragebögen der Sozialhilfeträger wird nach ersten Erfahrungen regelmäßig nach Beruf, Familienstand und beruflicher Stellung der unterhaltspflichtigen Kinder gefragt. Ein in Vertretung der Eltern den Antrag stellendes Kind wäre an dieser Stelle verpflichtet, wahrheitsgemäß Auskunft zu erteilen. Die Eltern, oder ein anderer Vertreter, der mit den familiären Verhältnissen nicht so vertraut ist, kann sich bezüglich dieser Frage auf Unwissenheit berufen. Das in Stellvertretung handelnde Kind indessen nicht.
Was muss man machen, wenn das Jahresbruttoeinkommen unter den vorgegeben 100.000 Euro pro Jahr liegt?
Man muss nichts machen, außer die Zahlungen einstellen und den Sozialhilfeträger darüber aus Höflichkeit kurz informieren.
Gilt das auch, wenn die Zahlung auf einem richterlichen Beschluss oder auf einem Vergleich beruht?
Ist das Kind durch einen gerichtlichen Beschluss oder einen gerichtlich protokollierten Vergleich zur Unterhaltszahlung verpflichtet, sollte es den Unterhaltsgläubiger, also das Sozialamt, auffordern, auf Rechte aus dem gerichtlichen Beschluss oder Vergleich zu verzichten. Weigert sich der Sozialhilfeträger muss ein gerichtliches Abänderungsverfahren eingeleitet werden. Dazu bedarf es anwaltlicher Vertretung. Die Betroffenen sollten jedoch dringend darauf achten, dass die anwaltliche Vertretung Erfahrungen im Elternunterhalt hat.
Bis zu welcher Höhe muss man Unterhalt zahlen?
Grundsätzlich hat ein Unterhaltspflichtiger den gesamten notwendigen Bedarf der unterhaltsberechtigten Person zu finanzieren. Allerdings wird dieser Bedarf durch das Eigeneinkommen, die Pflegegeldleistungen, gegebenenfalls Pflegewohngeld, Unterhaltsleistungen des vorrangig unterhaltspflichtigen Ehegatten und auch verzehrenden Vermögenseinsatz des Unterhaltsberechtigten vorrangig vor Unterhaltsleistungen des Kindes abgedeckt. In der Regel bewegt sich der Fehlbedarf zwischen 500 und 800 € pro Monat. Da die Rechtsprechung für Kinder seit dem Jahr 2002 eine Lebensstandardgarantie gewährt, wird auch für Kinder mit einem Einkommen von über 100.000 € zukünftig die Unterhaltsleistung an die Eltern durchaus sozial verträglich bleiben und nicht zu einer Absenkung des Lebensstandards führen.
Nach dem Gesetz haften Geschwister anteilig für den Unterhaltsbedarf ihrer Eltern. Was bedeutet „anteilig“ aufkommen?
Dies bedeutet, dass für jedes Kind isoliert die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit ermittelt wird. Übersteigt die Gesamtleistungsfähigkeit der Kinder den unterhaltsrechtlichen Bedarf des Elternteils, hat jedes Kind nur eine quotale Unterhaltszahlung zu erbringen.
Ein Beispiel: Der nicht anderweitig gedeckte Unterhaltsbedarf eines pflegebedürftigen Vaters beträgt 800 €. 3 seiner Kinder erzielen ein Einkommen von jeweils 150.000 € brutto. Aufgrund unterschiedlicher familiärer Situationen (Familienstand und Anzahl der Kinder), ist Kind 1 in Höhe von 300 €, Kind 2 in Höhe von 500 € und Kind 3 in Höhe von 400 € leistungsfähig.
Greift das Gesetz auch für Eltern, die für ihr volljähriges pflegebedürftiges Kind aufkommen müssen?
Grundsätzlich werden durch das Gesetz alle Sozialhilfeleistungen für volljährige Personen vom Rückgriff weitgehend freigestellt. Die Koalition hat damit eine wichtige sozialpolitische Weichenstellung vorgenommen und ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag erweiternd umgesetzt. Sie hat durch dieses Gesetz die Verantwortung der Gesellschaft für den Schutz des Bürgers vor durch ihn nicht verursachten Risiken wie Behinderung, Krankheit, Alter und Siechtum von Angehörigen unterstrichen.
Können nach dem 01.01.2020 bereits geleistete Zahlungen zurückgefordert werden? Wenn ja, wie macht man das am besten?
Soweit unterhaltspflichtige Kinderzahlungen an einen Sozialhilfeträger im Jahr 2020 für Unterhaltszeiträume des Jahres 2020 erbracht haben, können Sie den Sozialhilfeträger auffordern, diese Zahlungen zurückzuerstatten, sofern sie nicht durch gerichtliche Entscheidung zur Leistung verpflichtet sind. Auch in den Fällen einer Verurteilung zur Leistung durch das Gericht werden die Sozialhilfeträger jedoch voraussichtlich Zahlungen zurückerstatten, jedenfalls dann, wenn feststeht, dass die Jahreseinkommensgrenze von 100.000 € nicht überschritten wird.
Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass Verwaltungen und Gerichte sich auf das neue Gesetz noch nicht eingestellt haben. Vieles ist noch nicht vollständig geklärt. So haben die Oberlandesgerichte Anfang November – vor Verabschiedung des Gesetzes durch den Bundesrat – die Selbstbehalte für den Elternunterhalt auf lediglich 2.000 € angehoben. Dabei kann es selbstverständlich nicht bleiben. Es wird sicherlich ein bis zwei Jahre dauern, bis die unterhaltsrechtliche Praxis sich auf die durch das Angehörigen-Entlastungsgesetz vorgenommene sozialrechtliche Intervention ins Unterhaltsrecht eingestellt haben wird.
Jörn Hauß ist Fachanwalt für Familienrecht und berät in seiner Duisburger Anwaltskanzlei „Hauß Nießalla Härdle“ zu allen Fragen rund um den Elternunterhalt und bietet für famPLUS Kunden Beratungen zu diesem Thema an. Er ist Mitglied mehrerer Kommissionen, Ausschüsse und Vereine und gehört laut Focus zu den 100 besten Familienrechtsanwälten Deutschlands.