Sabine Tschainer, Diplom-Theologin sowie diplomierte Psycho-Gerontologin, arbeitet seit über 30 Jahren mit Demenzerkrankten. Zunächst als Angestellte, heute in ihrem eigenen Institut „aufschwungalt“. Basierend auf ihrer langjährigen Erfahrung hat sie das Buch „Demenz ohne Stress“ geschrieben. In diesem stellt sie unter anderem die von ihr entwickelte Sprache „Demenzerisch®“ vor. Für famPLUS ist sie als Referentin tätig. Wir wollten von ihr wissen, was es mit dieser Sprache auf sich hat, aber auch welche Tipps Sie uns im Umgang mit an Demenz Erkrankten geben kann.
Frau Tschainer, können Sie in wenigen Sätzen sagen, was „Demenz“ ist?
„Demenz“ heißt nichts anderes als „ohne Ratio“ oder frei übersetzt: das Gehirn funktioniert nicht mehr richtig. An Demenz Erkrankte sind zum Beispiel vergesslich, sie verlernen alltägliche und erlernte Fähigkeiten, sie haben keine Orientierung mehr und bei schweren Krankheitsverläufen das wohl schlimmste, sie verlieren die Erinnerung an sich selbst.
In unserem alltäglichen Sprachgebrauch nutzen wir Demenz gerne als einen Oberbegriff für alle Krankheitsbilder, die solche Symptome aufweisen. Es gibt aber zahlreiche Formen der Demenz und einige sind heilbar. Das Gehirn ist noch vollkommen intakt, die Demenzsymptome treten aber auf, weil beispielsweise die Schilddrüse nicht funktioniert oder die Patienten zu viele Medikamente erhalten. Oder es sind die Folgen einer Depression im Alter. Depression und dementielle Erkrankungen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter. Die Depression ist aber gut behandel- bzw. heilbar. In den meisten Fällen fehlt eine Differenzialdiagnose. Ich empfehle daher immer, mit den Patienten zu einer Gedächtnissprechstunde zu gehen. Zahlreiche Kliniken bieten eine solche Sprechstunde an. (Eine Liste entsprechender Institutionen finden Sie hier auf der Seite der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V.
Unheilbar sind die vaskuläre Demenz und Alzheimer. In beiden Fällen wird das Gehirn unwiederbringlich zerstört.
Warum ist es so besonders herausfordernd Demenzerkrankte zu pflegen?
Ich erkläre das immer so: Demenzerkrankte sind ver–rückt. Im Sinne von: Sie stehen neben sich. Damit es niemand merkt, legen sie sehr häufig ein „Fassadenverhalten“ an den Tag. Sie streiten ab, dass sie etwas vergessen haben oder ihnen etwas misslungen ist. Die pflegenden Angehörigen fangen dann an, an sich zu zweifeln.
Oftmals verschiebt sich auch der Tag/Nacht-Rhythmus der Erkrankten und schließlich verschwindet die vertraute Person. Eine Ehefrau - Klientin von mir - drückte das mal so aus: „Ich lebe mit einem lebenden Leichnam zusammen, der aussieht wie mein Mann.“
Besonders herausfordernd ist auch das Abhängigkeitsverhältnis. Der Mensch ist da und fordert Nähe, weil er zunehmend verloren ist. Zum Teil kleben die Pflegebedürftigen buchstäblich an ihren Angehörigen, wollen nicht allein gelassen werden, wehren sich dann aber teilweise auch wieder gegen jegliche Form der Hilfe.
An wen wendet sich ihr Angebot?
Das ist einfach zu beantworten: an sowohl Angehörige als auch professionelle Pflegekräfte und alle, die professionell mit Demenzerkrankten arbeiten.
Sie haben die „Sprache“, „Demenzerisch®“, entwickelt. Sie soll dabei helfen, mit Demenzerkrankten zu sprechen. Wie muss man sich das vorstellen?
Dieses „Sprache“-lernen hat zum Inhalt, dass wir mit unseren gesunden Gehirnen lernen, die Ausdrucksweisen der Erkrankten zu verstehen. Und mit ihnen so kommunizieren, dass auch sie mit ihren verschwindenden Gehirnen uns verstehen können. Drei wesentliche Elemente gehören dazu. Erstens: „Auf gutes Zureden verzichten.“ All unsere Argumente, Erklärungen, das gut gemeinten Zureden kommen im Gehirn der Demenzerkrankten immer weniger bzw. gar nicht mehr an. Und macht ihnen zumeist nur noch Stress. Das zweite Element ist die „Begeisterung am Detektiv-Sein“. So nenne ich die Bereitschaft „sich in die Welt der Erkrankten zu versetzen“. Zu verstehen, warum sie dies oder jenes sagen und tun - oder eben auch nicht tun.
Das dritte Element ist die „herzliche Autorität“. Es gibt Momente, da müssen wir klar und energisch auftreten. Aber eben ohne lange zu erklären: „Du musst jetzt, weil …“. Da helfen besser kurze und knackige Formulierungen, wie zum Beispiel: „Wir gehen jetzt los.“ oder „Auf geht’s…!“ Und das ganze bevor uns selber die Nerven durchgehen. Deswegen „herzlich“. Wichtig ist mir auch der Begriff der Autorität, das hat nichts mit „autoritär“ zu tun.
„Demenzerisch®“ lernen hat mit unserer Haltung zu tun. Wir müssen unser Gehirn umtrainieren. Wer „Demenzerisch®“spricht, gibt keine Erklärungen, sondern übernimmt die Verantwortung für einen anderen Menschen, trifft zunehmend Entscheidungen für ihn. Voraussetzung ist mein Respekt. Und mein Interesse an diesem Menschen in seiner ver-rückten Welt!
Woher wissen Sie, wie Demenzerkrankte ticken? Oder anders gesagt: Woher wissen Sie, dass die Erkrankten Sie verstehen?
Ich habe ein sehr großes Interesse an Menschen und bin dran interessiert, sie zu verstehen. Das gepaart mit über 30 Jahren Berufserfahrung mit Demenzkranken hat mich einiges gelehrt. Wobei ich auch gelernt habe, dass es bei geistig Gesunden wie Erkrankten niemals möglich ist, den anderen immer zu 100 Prozent zu verstehen. Perfektion und Demenz passen schlecht zusammen. Am meisten habe ich allerdings gelernt, als mein eigener Vater an Demenz erkrankte. Plötzlich war da nicht mehr die professionelle Distanz, sondern ich war mit all meinen Gefühlen betroffen. In der Situation habe ich insbesondere die Perspektive der Angehörigen kennen gelernt. An meinem eigenen Vater konnte ich sehen, was er als an Demenz Erkrankter in welcher Situation versteht und was nicht. Wie er sich veränderte. Und was das für die Familie bedeutet.
Ist nicht jeder an Demenz erkrankte Mensch anders? Es gibt die, die aggressiv werden und solche, die sich in sich zurückziehen. Kann man da von einer Sprache sprechen? Bzw. gibt es das Patentrezept im Umgang mit Demenzerkrankten?
Ein Patentrezept gibt es leider nicht. Was es ich anbieten kann, ist ein Handwerkskoffer, aus dem sich die Angehörigen dann die für sich und ihre Erkrankten richtigen Reaktionsmöglichkeiten herausziehen müssen. Die Angehörigen müssen nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ verfahren. Wenn in einer Situation das Wort „A“ nicht zum Ziel führt, muss es mit Wort „B“ versucht werden. Hilft es nicht, leise zu sprechen, muss man auch mal resolut laut werden – im Sinne von „herzlicher Autorität“. Und immer im Hinterkopf behalten: Das Gehirn ist kaputt und braucht Orientierung.
In ihren Buch „Demenz ohne Stress“ geben Sie Hilfestellung in der Hilflosigkeit im Umgang mit Demenzerkrankten. Können Sie uns ein Beispiel geben?
Angehörige bekommen immer wieder von den Erkrankten zu hören: „Ich will nach Hause.“ In einer solchen Situation hilft es, um die Ecke zu denken. Warum will die Person nach Hause? In den meisten Fällen will sie nach Hause, weil sie sich dort auskennt. Das „Bedürfnis nach Sicherheit, Wohlfühlen“ wäre also das Stichwort. Anstatt also zu argumentieren, warum die Person nicht nach Hause kann oder dass das, wo sie jetzt ist, ihr neues Zuhause ist, hilft man ihr besser aus der Hilflosigkeit heraus. Indem man ihre Bedürfnisse befriedigt, das Gefühl von „zu Hause sein“ ein bisschen herstellt. Also beispielsweise einen Tee kocht, ihr einen Apfel zum Schälen gibt, gemeinsam plaudert oder - wenn das im Leben des Erkrankten wichtig war - auch Papiere und Aktenordner zur Hand hat, die „durchgearbeitet“ werden können. Wir machen es uns häufig leider viel zu kompliziert. „Demenzerisch®“ setzt auf das „Prinzip der Einfachheit“. Dabei hilft sehr, zu verstehen: Es wird nichts mehr vollständig gut. Wir können den Erkrankten Wohlfühlmomente bieten. Das Ziel der rundum Wohlfühltage ist leider zumeist sehr unrealistisch.
Sie geben auch Tipps für Möglichkeiten im Vorgehen in schwierigen bzw. eskalierenden Situationen. Was wäre so ein Tipp?
Gehen Sie aus der Situation heraus. Verlassen Sie das Zimmer und kommen erst nach 10 bis 15 Minuten wieder. Bei fortgeschrittener Demenz erinnern die Erkrankten sich dann an nichts mehr und Sie können von vorne anfangen. Ganz wichtig! Sagen Sie auf keinen Fall so etwas wie: „Jetzt probieren wir es noch mal.“ Das frustriert die Betroffenen, denn sie merken, dass sie etwas vergessen haben bzw. etwas schief gelaufen sein muss. Kommen Sie wieder, als wäre Sie nicht da gewesen.
Sie sagen in einem Interview, dass demente Patienten in schwierigen Situationen am besten „geführt“ werden können mit einem „… auf geht’s“ oder ein „jetzt packen wir es …“ Das ist oftmals leichter gesagt, als getan. Was, wenn die betreuende Person nicht so eine zupackende Persönlichkeit ist? Sie eventuell auch mit dem Rollentausch von der Position des Kinds in die des Betreuenden nicht zurecht kommt bzw. bereits am Ende der eigenen Kräfte ist?
Ganz wichtig ist es, von Anfang an ein privates Netzwerk aus Familie, Freunden und Bekannten und so früh wie möglich ein professionelles Netzwerk aus ehrenamtlichen Helfer*innen, Betreuungsgruppen und Pflegedienst aufzubauen. Pflegende Angehörige brauchen einen freien Vor- oder Nachmittag pro Woche. Ein freies Wochenende pro Monat und zwei Wochen Urlaub pro Jahr.
Das ist aus mehreren Gründen wichtig: Für die Nerven aller ist es besser, wenn die Erkrankten mehrere Bezugspersonen haben. Außerdem kann man schwierigere Situationen besser aushalten, wenn man eine Pause vor Augen hat.
Was den Rollentausch angeht, kann ich nur raten schon sehr früh, eine Angehörigengruppe zu suchen. Hier lernt man andere kennen, denen es in aller Regel genau so geht. Man kann sich austauschen und gegenseitig Halt geben. Und merkt, dass andere ganz ähnlichen Kummer und Fragen haben wie man selbst. Gute Angehörigentreffs sind auch wie Tauschbörsen für Ideen und Lösungen zur Bewältigung des anstrengenden Alltages.
Hilfreich ist es aber auch, sich immer wieder bewusst zu machen, dass man ein Problem mit dem Rollentausch hat: Kinder müssen die Sorgenden und Entscheider für Eltern werden. Ehepartner stehen auf einmal vor Aufgaben, die immer der oder die Andere erledigt hat. Hier hilft das Motto: Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Denn das ist wirklich schwer. Gleichzeitig sollten Betroffene aber auch barmherzig mit sich selbst sein. Jeder kleine Schritt zählt! Die Devise muss nur lauten: Dranbleiben. Und auf keinen Fall alles alleine machen wollen.
An einer anderen Stelle raten Sie zu roten und süßen Lebensmitteln. Warum das?
Gerade bei Alzheimer-Patienten verändert sich der Geschmackssinn. Herzhaftes schmeckt nach nichts oder gar widerwärtig. Der Geschmackssinn für süßes bleibt. Dann braucht der Schweinebraten Zucker oder Marmelade obendrauf, um gut zu schmecken. Ketchup geht aber auch.
Wichtig ist auch zu wissen, dass Demenz häufig das drei-dimensionale Sehvermögen verändert. Erkrankte können einen Grießbrei in einer weißen Schüssel womöglich noch auf einem weißen Set nicht erkennen. Rot ist eine Signalfarbe, die gut erkannt wird. Ein Klecks Marmelade auf den Grießbrei oder den Teller auf ein rotes Set stellen, hilft. Auch hilfreich: eine rote Toilettenbrille, den Druckknopf für die Toilette rot anmalen oder den Waschbeckenrand in rot.
Generell gilt für den Umgang mit Demenzerkrankten: Ein Reiz/ eine Information, ein Wort,
eine Sache, die es zu erledigen gilt.
Abschließend noch eine ganz persönliche Frage: In wie weit hilft Ihnen Ihre Religiosität im Umgang mit diesem doch sehr schwierigen und herausfordernden Krankheitsbild.
Ich bin keine Institutionsgläubige, sondern vielmehr eine spirituelle Person. Mir sind Begegnungen mit Menschen wichtig. Der Kontakt mit demenzerkrankten Frauen und Männern kann uns Begegnung lehren: einfach und direkt – wenn wir uns darauf einlassen.
In der Bibel steht: „Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst!“ Wir vergessen oft das „wie dich selbst“. Ich will eine gefahrlose Gesellschaft auch für an Demenz Erkrankte. Eine Gesellschaft, in der wir diese nicht ständig korrigieren, sondern eine Gesellschaft, in der wir sie so sein lassen, wie sie sind. Vergesslich, aber deshalb nicht weniger liebenswert.
Über Sabine Tschainer
Sabine Tschainer ist Diplom-Theologin sowie diplomierte Psycho-Gerontologin und heute Inhaberin und Geschäftsführerin des Instituts aufschwungalt in München. Mit dem Ziel, einen positiven Bewusstseins- und Wertewandel in der Gesellschaft voranzutreiben und zu etablieren, richtet sie sich mit ihrem Beratungs- und Unterstützungsangebot unter anderem an alte Menschen und deren Angehörige.
Bevor sie sich 2001 zur Gründung von aufschwungalt entschloss, hatte sie mehrjährige Berufserfahrung in verschiedenen Bereichen der Altenhilfe und Gerontopsychiatrie gesammelt, zahlreiche ehrenamtliche Vorstandstätigkeiten auf regionaler und Bundesebene innegehabt sowie viele Jahre in der Fort- und Weiterbildung gearbeitet. Darüber hinaus ist sie Mitglied des fachlichen Beirats der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sowie Kuratorin des Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA).
Neben all diesen Aufgaben hat sie zahlreiche Publikationen zu unterschiedlichen Problemstellungen der Altenhilfe verfasst. 2019 wurde ihr Buch „Demenz ohne Stress. Demenzerisch® lernen für einen leichteren Umgang mit Demenzerkrankten“ veröffentlicht – erschienen Anfang des Jahres im Beltz Verlag. Wir wollten mehr über ihre Arbeit und ihr Projekt „Demenzerisch® lernen“ erfahren.
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