Viele von uns kennen berufliche Situationen, in welchen Erfolg, Leistung und Fortschritt zählen. Aber was ist mit Glück, Trauer, Angst oder Verletzung? Haben derartige Themen des persönlichen Lebens, welche letztlich direkt unsere seelische Gesundheit beeinflussen Platz am Arbeitsplatz? Sie sollten es nicht nur, sie müssen es sogar! In Zeiten von sich immer schneller verändernden Arbeitsumgebungen und -aufgaben ist es essenziell durch zwischenmenschliche Beziehungen, Achtsamkeit und Empathie ein sicheres Umfeld für seelische Gesundheit zu schaffen. Aus Angst vor Reaktionen anderer werden persönliche Belastungen häufig zum Tabuthema.
In solchen Situationen sind nicht nur wir alle als Mitarbeiter und unser Mut gefragt, sondern das ganze Unternehmen muss Verantwortung übernehmen. Führungskräfte und Vorgesetze stehen in der Verantwortung, Belastungen, die das seelische Wohlbefinden einschränken, Zeit und Raum zu geben. Doch wie kann das konkret aussehen? Wie finde ich, als Mitarbeiter/in die richtigen Worte, Belastungen oder Probleme offen anzusprechen? Wie kann ich als Führungskraft souverän reagieren?
Wir geben Ihnen anhand eines konkreten Fallbeispiels erste Ideen:
Seit einem Jahr knistert es in der Abteilung heftig, weil Wolfgang F. (55 Jahre) aus Sicht der Kollegen seine Aufgaben nicht mehr zuverlässig erfüllt, sich Fehler häufen und es immer wieder zu Krankmeldungen kommt. Wolfgang F. spürt den Druck, der von den Kollegen ausgeht und sucht das Gespräch mit seinem Vorgesetzten Rainer S.
Im Gespräch kommt heraus, dass Wolfgang F. vor einem Jahr die Diagnose Parkinson erhalten hat und erste Anzeichen wie Zittern an Händen und Armen, Muskelsteifheit und Bewegungsarmut spürbarer werden. Rainer S. ist zuerst einmal geschockt und weiß nicht, was er sagen soll. Ihm ist klar, dass in diesem Fall Dasein und Hinhören wichtiger sind als vorschnell Ratschläge wie „Kopf hoch, wird schon wieder!“ oder „Jetzt beiß mal die Zähne zusammen, das kriegen wir schon hin!“ raus zu posaunen.
Nach gefühlten zwei Minuten drückender Stille folgt Rainer S. seinem Bauchgefühl und sagt: „Wolfgang, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Du siehst mich jetzt total geschockt vor Dir sitzen. Wie kann ich Dich in irgendeiner Form unterstützen?“
Wolfgang F. kullern die Tränen herunter und er beginnt zu erzählen, was ihm seit der Diagnose widerfahren ist. Große Sorgen macht er sich über seine 15-jährige Tochter, der er kein „richtiger“ Vater mehr sein kann, über seine Frau und die fehlende finanzielle Absicherung. Vor den Kollegen schämt er sich, nicht mehr die Leistung bringen zu können wie zuvor.
Als alles gesagt ist, fällt Wolfgang F. ein Stein vom Herzen. Rainer S. hat gut hingehört und verspricht alle Kollegen und notwendigen Abteilungsleiter (Personal, Arbeitssicherheit, Betriebsrat) zu informieren, um gemeinsam eine Lösung zu finden.
Die Aufgabe des Vorgesetzten ist es jetzt, die richtigen Fragen zu stellen:
- Welche Erwartungen hast Du an das Team, an mich und das Unternehmen?
- Wie möchtest Du, dass wir mit Dir im Arbeitsalltag umgehen?
- Wie können wir Dich an Deinem Arbeitsplatz unterstützen?
- Wie kommst Du im Moment mit der veränderten Situation klar?
- Wie fühlst Du Dich heute?
Vorgesetzte und Kollegen sollten das Gespräch mit Wolfgang F. suchen. Sinnvoll ist es, Kontakt mit der Familie aufzunehmen und Unterstützung anzubieten, soweit das möglich ist. Wenn es zu Krankschreibungen kommt, ist es wichtig, den Kontakt zum Betroffenen zu halten, was auf vielfältigste Weise (E-Mail, WhatsApp, Telefonat, Besuch im Krankenhaus uvm.) geschehen kann.
Oft erleben erkrankte Mitarbeiter, dass sich kein Mensch mehr rührt, bevor er nicht wieder voll genesen ist. Verschlechtert sich der Krankheitszustand oder führt zum Tod, verstärkt sich das Gefühl von Alleingelassen sein, in dem Fall wird vom sozialen Tod gesprochen. Wer Kollegen anspricht und fragt: „Kommst Du mit, Wolfgang im Krankenhaus zu besuchen?“ bekommt sehr oft die Antwort: „Ne, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!“
Schon kleine Dinge helfen sowohl dem betroffenen Mitarbeiter, der Familie als auch den gesunden Mitarbeitern im Unternehmen. Es spricht sich herum, dass in diesem Unternehmen auch dann wertschätzend mit Mitarbeitern umgegangen wird, wenn sie erkrankt sind oder im Sterben liegen.
Der internationale Tag der seelischen Gesundheit am 10. Oktober möchte den Appell an alle Akteure (Mitarbeiter/in oder Führungskraft) geben, das Thema seelisches Wohlbefinden durch mehr Offenheit und Toleranz zu erhalten und zu stärken. Dabei spielt das Hin- und Zuhören im Unternehmen eine große Rolle und nicht das Verschließen und Wegschauen. Wir möchten Sie daher alle anregen, persönlichen Belastungen einen Platz in der ersten Reihe Ihrer Organisation, Ihres Teams oder Ihren persönlichen Prioritäten zu geben – seien Sie mutig, offen und ehrlich.
Ulrich Welzel I Trauma am Arbeitsplatz I Betriebliches Notfallmanagement
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