Jährlich werden in Deutschland viele tausend Ehen geschieden, eine Vielzahl der Scheidungspaare hat minderjährige Kinder. Finden die Geschiedenen im Laufe der Zeit einen neuen Partner oder eine neue Partnerin und entschließen sich dazu, ein neues Zusammenleben zu beginnen, entsteht eine sogenannte Patchwork-Familie.
Patchwork-Familien gab es grundsätzlich schon immer, wenn auch vor dem Hintergrund wechselnder gesellschaftlicher und sozialer Bedingungen. Heute ist knapp jede zehnte Familie in Deutschland „bunt zusammengemischt“. Doch was farbenfroh und lustig klingen mag, kann für alle Familienmitglieder der neuen Familie zur Herausforderung werden. Nicht umsonst finden wir das Wort „work“ in „Patchwork“: Hier stecken viel Arbeit und Geduld dahinter. Doch mit der richtigen Vorgehensweise und ein paar Tipps kann durchaus ein harmonisches und für alle bereicherndes Zusammenleben entstehen.
Was macht das Familienkonzept „Patchwork“ aus?
Der Name „Patchwork“ kommt daher, dass die Art der Familienzusammensetzung bei einer Patchwork-Familie so unterschiedlich sein kann wie bei dem namensgebenden Flickenteppich, der ebenfalls aus mehreren Teilen zusammengesetzt ist. So kann eine Patchwork-Familie aus den Stiefeltern und den jeweils leiblichen Kindern beider Partner bestehen, auch Stiefvaterfamilie oder Stiefmutterfamilie genannt. Es gibt aber auch Familien mit gemeinsamen Kindern und Stiefkindern gemischt, Familien, in denen Kinder dauerhaft leben, und solche, bei welchen sie nur zu Besuch kommen, aber kein Teil des Haushalts sind. Je nach Familienzusammensetzung ist es ratsam, die rechtlichen Grundlagen – zum Beispiel hinsichtlich des Sorgerechts und der Rechte des Stiefelternteils – in Erfahrung zu bringen. Für die Mehrheit der Menschen in Europa – etwa 85 Prozent – sind Patchwork-Familien eine normale, gesellschaftlich akzeptierte Familienform. Dabei ist die Patchwork-Familie keineswegs ein neues Konzept und existiert schon seit einigen Jahrhunderten. Während die klassische Kombination mit Stiefmutter oder Stiefvater und dem jeweiligen Gegengeschlecht vorherrscht, entstehen seit einigen Jahren auch immer mehr Patchwork-Familien mit gleichgeschlechtlichen Partnerbeziehungen.
Warum der Begriff „Stiefeltern“ veraltet ist
Bis ins 20. Jahrhundert hinein war es gang und gäbe, erneut zu heiraten, wenn ein Elternteil früh starb, zum Beispiel durch Kriege oder Krankheiten. Die Vorsilbe „Stief-“ des Wortes „Stiefeltern“ kommt ursprünglich aus dem Germanischen und bedeutet „beraubt“. Die Familie wurde also der früheren Bedeutung nach durch den (meist verfrühten) Tod eines Elternteils beraubt und eine schnelle Wiederheirat war üblich und notwendig, um die Familie abzusichern und ernähren zu können. Doch durch den medizinischen Fortschritt ist diese Situation inzwischen sehr viel seltener geworden. Heutzutage führt in den meisten Fällen die erhöhte Trennungs- und Scheidungsrate dazu, dass Patchwork-Familien entstehen. Ausschlaggebend scheinen dabei nach wie vor die soziale und finanzielle Absicherung und das Bedürfnis nach einer „heilen“ Familie zu sein. Da das Patchwork-Konzept heute jedoch eher eine positive Konnotation hervorruft und vor allem als neue Chance auf eine glückliche Familie sowie als Bereicherung durch neue Familienmitglieder gesehen wird, ist der Begriff „Stiefeltern“ mittlerweile eher negativ behaftet. Deshalb geht der Trend immer stärker dahin, positivere Wörter wie etwa „Bonuseltern“ oder „Zusatzeltern“ zu verwenden.
Herausforderungen einer Patchwork-Familie
Wenn zwei Partner sich neu finden, erleben sie die Anfangszeit einer Beziehung erneut. Oft machen sie dabei den Fehler, davon auszugehen, dass auch ihre Kinder so empfinden und den neuen Partner oder die neue Partnerin mit offenen Armen empfangen. Kindern fällt es jedoch oft schwer, eine neue, weitgehend fremde Person als Familienmitglied zu akzeptieren, insbesondere dann, wenn diese den Vater oder die Mutter in ihren Augen „ersetzen“ soll. Sie reagieren nicht selten mit Schmerz, Trotz, Angst, Ablehnung und Rückzug. Auch der neue Partner oder die neue Partnerin sieht sich mit einigen Herausforderungen konfrontiert: War er oder sie vorher noch Single oder alleinerziehend, ist er oder sie nun plötzlich Stiefvater oder Stiefmutter. Dieser Rollenwechsel findet nicht selten innerhalb kürzester Zeit statt und dem Partner oder der Partnerin bleibt nur wenig Zeit, sich auf die Stiefkinder einzustellen. Viele Stiefeltern fühlen sich zunächst hilflos und verunsichert, denn die Teilfamilie, in die sie kommen, ist meistens bereits gut eingespielt. Sie hingegen müssen erst ihren Platz im neuen Familiengefüge finden. Viele Partner/innen fühlen sich dadurch anfangs als Außenseiter und leiden unter Versagensängsten, vor allem dann, wenn sie noch keine Erfahrung mit Kindererziehung haben. Hat der neue Partner oder die neue Partnerin hingegen eigene Kinder, die er oder sie mit in die Familie bringt, kann es zusätzlich zu Geschwisterkonflikten kommen. Das Ringen um Aufmerksamkeit und Eifersucht sind dann häufig die Folgen.
Wie kann Patchwork funktionieren und wo müssen Grenzen gesetzt werden?
Grundsätzlich werden bei der Familienfindung und -formung verschiedene Phasen durchlaufen:
- Beschnuppern und Kennenlernen: Hier hat der leibliche Elternteil die wichtigste Rolle, denn er kennt beide Seiten der Familie und kann diese am besten zusammenführen. Wichtig ist hierbei, die Balance zu bewahren, keine der beiden Seiten zu vernachlässigen und Raum für das gegenseitige Kennenlernen zu schaffen.
- Machtkämpfe und Auseinandersetzungen: Die Positionen innerhalb des Familiengefüges werden neu geordnet und definiert. Hier kann es wortwörtlich zum Kampf um einen Platz – etwa den Autositz oder den Platz am Esstisch – kommen. Die Aufgabe der Erwachsenen in dieser Phase ist es, Raum für konstruktive Auseinandersetzungen und deren Lösungen zu schaffen und Eskalationen zu verhindern.
- Übergangsphase und langsames Einpendeln: Sind die Positionen klargestellt, geht es darum, innerhalb der Familie offen zu kommunizieren und neue Rituale und Abläufe auszuprobieren. Dadurch können sich alle Familienmitglieder langsam aufeinander einstellen und lernen, einander zu respektieren.
- Etablierung der neuen Familienstruktur: Mit der Zeit spielt sich die neue Familie immer mehr ein und etabliert feste Gewohnheiten. An diesem Punkt haben sich im besten Fall alle Familienmitglieder miteinander arrangiert. Sie wissen genau, wo ihr Platz in der neuen Familie ist und wie sie miteinander umgehen können.
Wichtig: Jede Patchwork-Familie ist anders und jedes Kind reagiert anders auf eine neue Situation, deshalb gibt es auch hier kein Pauschalrezept. Was aber generell während des Entwicklungsprozesses immer hilft, ist, den Druck herauszunehmen und geduldig zu sein. Lassen Sie sich besonders am Anfang Zeit, die neue Situation richtig anzugehen, und versuchen Sie sie als etwas Positives wahrzunehmen: Sie haben nun die Möglichkeit, einmal ganz von vorn anzufangen und Ihre neue Familie mitzugestalten. Haben Sie Geduld mit sich selbst und den anderen und stellen Sie nicht zu hohe Erwartungen an die Reaktion und die Anpassungsfähigkeit der Kinder. Insbesondere beim ersten Treffen sind Kinder meistens noch sehr verschlossen. Das erste Aufeinandertreffen sollte daher sorgfältig geplant und wohlüberlegt stattfinden und nicht durch eine zufällige Begegnung, beispielsweise morgens im Badezimmer oder auf dem Flur. Machen Sie lieber einen vorher angekündigten, gemeinsamen Ausflug zur Lieblingseisdiele oder in den Park, so sind die Kinder darauf vorbereitet, den neuen Partner oder die neue Partnerin in einem neutralen, lockeren Umfeld kennenzulernen und Sie haben gleich einen guten Anschlusspunkt für gemeinsame Aktivitäten. Seien Sie als neuer Partner oder neue Partnerin beim ersten Kennenlernen herzlich, aber fallen Sie nicht gleich mit der Tür ins Haus. Halten Sie sich lieber zunächst ein wenig zurück und warten die Reaktion der Kinder ab.
Ist das erste Kennenlernen geglückt, kommt häufig sehr bald die Frage auf, wie die Kinder Ihres Partners oder Ihrer Partnerin Sie als neues Familienmitglied nennen sollen oder wollen. Beim ersten Treffen sollten Sie sich mit Ihrem Vornamen vorstellen, doch sollte man es nun dabei belassen oder ist es auch in Ordnung, wenn die Stiefkinder Sie „Mama“ oder „Papa“ nennen? Das hängt ganz klar von den Kindern ab. Ihnen sollte es unter keinen Umständen aufgezwungen werden, Sie „Mama“ oder „Papa“ zu nennen, das sollte unbedingt dem leiblichen Elternteil vorbehalten sein, aber: Kommt der Wunsch von den Kindern aus eigenem Antrieb, kann das durchaus mit dem leiblichen Elternteil besprochen werden. Auf keinen Fall sollten Sie jedoch versuchen, den leiblichen Vater oder die leibliche Mutter zu ersetzen, und das müssen Sie auch gar nicht. Versuchen Sie, statt einer Eltern-Kind-Beziehung lieber eine Freundschaft aufzubauen und lassen Sie die Kinder selbst entscheiden, welche Rolle sie Ihnen zuweisen. Ganz egal, in welcher Beziehung Sie später zu ihren Stiefkindern stehen, Sie sind nun eine zusätzliche Bezugsperson – ein „Bonuspapa“ oder eine „Bonusmama“ – auf die sich die Kinder in ihrem Leben verlassen können. Das stärkt nicht nur ihr Sozialverhalten, sie bekommen gleichzeitig auch mehr Unterstützung im Alltag und damit viele wertvolle Begleiter auf ihrem Entwicklungsweg.
Wer darf was in einer Patchwork-Familie?
So bunt Ihr neuer Haushalt auch sein mag, ein paar Regeln dürfen nicht fehlen. Da Sie am Anfang vielleicht noch gar nicht genau wissen, welche Regeln Ihr/e Partner/in bisher angewendet hat, sollten Sie möglichst keine schon bestehenden Erziehungsregeln unterwandern. Besprechen Sie erst mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin, was Sie hinsichtlich seiner oder ihrer Kinder entscheiden dürfen und was nicht. Insbesondere, wenn Ihr eigenes Kind und das des Partners oder der Partnerin zusammen in der Familie leben, sollten Sie vorher absprechen, welche Ziele Sie bei der Erziehung verfolgen möchten. Besonders in der ersten Zeit des neuen Zusammenlebens, aber auch darüber hinaus können regelmäßige Familienkonferenzen mit der ganzen Familie helfen, Unklarheiten aus der Welt zu schaffen, indem beispielsweise geklärt wird, wer Ansprechpartner für wen und was ist. Diese erste gemeinsame Zeit kann gleichzeitig eine Chance sein, neue gemeinsame Rituale zu entwickeln, die Ihr zukünftiges Familienleben stärken können. So können Sie zum Beispiel ein gemeinsames Sonntagsfrühstück einführen, bei dem jedes Familienmitglied einen Teil übernimmt, abends eine Serie gucken oder regelmäßig ein Spiel spielen.
Neue Rollen und Zeit zu zweit?
Wenn aus beiden Teilfamilien Kinder mit in die neue Familie gebracht werden, kann es nicht nur zu Konflikten zwischen Kindern und Stiefeltern kommen, vielmehr können sich automatisch die Positionen der Kinder im Familiengefüge verändern. So wird zum Beispiel ein Einzelkind plötzlich zum großen Stiefbruder oder das jüngste Mädchen hat auf einmal selbst eine kleine Stiefschwester, wodurch Rivalitätskämpfe entstehen können. Umso wichtiger ist es, dass Sie das Stiefkind ebenso akzeptieren und respektieren wie Ihr eigenes. Sprechen Sie offen über Wünsche, Ängste und Gefühle. Zeigen Sie den Kindern immer wieder Ihre Liebe und Aufmerksamkeit und nehmen Sie sich genug Zeit für sie, denn diese neuen Rollen in der Familie können für Kinder auch etwas sehr Bereicherndes sein, wenn man ihnen die Angst davor nimmt. Vielleicht hat sich Ihr Kind schon immer ein Geschwisterkind gewünscht, was jedoch in der vorherigen Familie nicht möglich war, oder ihm hat ein gleichaltriges Kind mit ähnlichen Interessen gefehlt, um sich auszutauschen und zu entfalten. Durch das neue Familiengefüge lernen die Kinder außerdem, besser mit Veränderungen und Konflikten umzugehen. Sie lernen Respekt, Toleranz und Einfühlungsvermögen und stärken gleichzeitig ihre Kommunikationsfähigkeit. Gewähren Sie jeweils Partner/in und Kind regelmäßig auch einmal Zeit miteinander, damit die Kinder nicht das Gefühl bekommen, etwas zu verlieren und sich plötzlich wieder in Konkurrenz zu Ihnen sehen. Und last, but not least: Zeit zu zweit ist auch für Sie als Paar wichtig.