Der Dienst beginnt um 6:00 Uhr, der Kindergarten öffnet aber erst um 8:00 Uhr. Die Besprechung dauert mal wieder länger als geplant, der Kindergarten schließt aber pünktlich um 17:00 Uhr. Eine Dienstreise oder Fortbildung steht an und niemand kann gefunden werden, die Kinder während dieser Zeit zu betreuen. Insbesondere berufstätige Alleinerziehende können es sich oftmals nicht leisten, für die Randzeitenbetreuung eine zusätzliche Betreuung zu bezahlen.
Um herauszufinden, wie sich eine flexible Randzeitenbetreuung auf die Erwerbschancen Alleinerziehender auswirkt, hatten die Landesverbände Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Berlin des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV) mit Unterstützung des Walter Blücher Stiftung 2014 bis 2017 ein Modellprojekt initiiert. Das Projekt „Ergänzende Kinderbetreuung, Notfallbetreuung und Beratung für Einelternfamilien“ unterstützte an drei Standorten Alleinerziehende bei der Betreuung ihrer Kinder. Das Ergebnis der mit dem Modell einhergehenden Evaluation: Eine individuelle, flexible und bedarfsdeckende ergänzende Kinderbetreuung erhöht mittelbar die Erwerbschancen, steigert das Erwerbseinkommen, stabilisiert das Haushaltseinkommen und führt zur Unabhängigkeit von sozialen Transferleistungen.
„Sonne, Mond & Sterne“
Eines der geförderten Modellprojekt ist das Projekt „Sonne, Mond & Sterne“ in Essen. Der zentrale Baustein des Angebots ist es, die Vermittlung von Kinderbetreuung für früh morgens, spät abends und während der Nacht zu gewährleisten. Ein Angebot, das für Schichtarbeiter*innen vieler Berufe Grundvoraussetzung für eine gelingende Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist. „Viele Alleinerziehende arbeiten im Pflegebereich mit Schichtdiensten frühmorgens, nachts oder am Wochenende“, sagt Antje Beierling, Vorstandsfrau des VAMV NRW. „Doch die Regelangebote der Kindertagespflege, Kita oder Offener Ganztag lassen erhebliche Lücken in der Kinderbetreuung offen.“ Alleinerziehende bekommen bei „Sonne, Mond und Sterne“ daher Betreuungspersonen „Kinderfeen“ an die Seite gestellt, welche die Kinder in den Tag begleiteten und sie dann in die Kita oder Schule bringen. Die Kinder von der Schule oder Kita abholen und gemeinsam den Tag ausklingen lassen oder mit im Haushalt der Familie übernachten. „Wir bieten ganz bewusst die Betreuung im Haushalt der Alleinerziehenden an, damit die Kinder in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können und sich nicht zusätzliche Gruppenkonstellationen einfinden müssen. Alle Kinderfeen werden auf ihre Aufgabe gut vorbereitet und laufend von Fachberaterinnen unterstützt,“ berichtet Sung Sauter-Mehla, zuständige Fachberaterin.
Über die Randzeitenbetreuung hinaus erhalten die Alleinerziehenden zusätzlich eine Beratung sowie ein Coaching. Gemeinsam werden Lösungen erarbeitet, um durch einzelne Veränderungen den Familienalltag spürbar zu entlasten. Beispielsweise wird eruiert, ob die Arbeitszeiten flexibler gestaltet werden können. Ob in der Kita oder Schule andere Betreuungszeiten eingekauft werden können oder ob im familiären Umfeld Unterstützung bei der Betreuung gefunden werden kann. Oder ob jemand die Kinder mit zur Schule oder in die Kita nehmen oder abholen kann.
Die Finanzierung wurde während der Projektphase komplett von der Walter Blüchert Stiftung übernommen. Das Angebot war somit für alle teilnehmenden Alleinerziehenden kostenfrei. Nach Abschluss des Projektes war die weitere Finanzierung zunächst unklar. In ihrer jüngsten Sitzung im Juni 2018 hat der Jugendhilfeausschuss der Stadt Essen nun die Verstetigung des Projektes beschlossen. Essen ist damit bislang die einzige Kommune, die die rechtliche Verpflichtung gemäß § 24 Absatz 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII in die Praxis umgesetzt hat und somit „ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen und ergänzender Förderung bereithält, damit die Erziehungsberechtigten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, Arbeitssuchend sind (…)“
Auch die anderen Modellprojekte in Berlin und Rheinland-Pfalz haben gezeigt, dass diese Art der Unterstützung einen großen Einfluss auf die Erwerbstätigkeit der beteiligten Alleinerziehenden hatte. Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV) hat daher die Handlungsempfehlungen „Betreuungslücken schließen: Bedarfsgerechte Öffnungszeiten der Regeleinrichtungen und ergänzende Kinderbetreuung auf den Weg bringen – Arbeitszeitsouveränität stärken!“ ausformuliert. Zehn Handlungsempfehlungen, die zukünftig nicht nur Alleinerziehenden zugute kommen sollen.
So fordert der VAMV (verkürzte Darstellung):
- einen über die geltenden Rechtsansprüche hinaus bundesweiten Anspruch auf bedarfsgerechte ergänzende Kinderbetreuung bis zum 14. Lebensjahr.
- Bund, Länder und Kommunen müssen sich entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an den Kosten beteiligen.
- Die Betreuung zur Randzeiten sollte insbesondere den Kriterien von personeller Kontinuität, Verlässlichkeit, individueller Passgenauigkeit und kinnbezogener Bedürfnisanpassung genügen.
- Vor Ort sollte eine fachlich qualifizierte Koordinierungsstelle eingerichtet werden.
- Atypische Arbeitszeiten und kurze, oft nur stundenweise Arbeitseinsätze setzen für die Betreuer*innen eine angemessene Relation von Aufwand und Vergütung voraus.
- Arbeitnehmer*innen sollten grundsätzlich ein individuelles Wahlrecht hinsichtlich der eigenen Arbeitszeitlage und des Arbeitsortes haben.
- Das Wahlrecht sollte an verbindliche Vorgaben zum Arbeits- und Gesundheitsschutz gekoppelt werden.
- Beschäftigte in Teilzeit brauchen ein Rückkehrrecht zum ursprünglichen Arbeitsumfang.
- Das Leitbild einer „kurzen Vollzeit“ sollte sich allgemein etablieren und durchsetzen können.
- Es ist notwendig, dass beide Elternteile gleichberechtigt durch eine „Familienarbeitszeit“ vorübergehend im Spagat zwischen Familie und Beruf finanziell und zeitlich entlastet werden.
Die vollumfänglichen Handlungsempfehlungen finden Sie hier
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