"Lehrer und Lehrerinnen haben auch eine Fürsorgepflicht"

Wenn ein Angehöriger hilfe- oder pflegebedürftig wird, ist das für Familien immer eine Herausforderung. Denn Pflegen ist eine Aufgabe, die oftmals viel fordert und zu einer Belastung werden kann. Besonders ist die Situation, wenn Kinder oder Jugendliche als Pflegende und Sorgende eingebunden sind. In Deutschland gibt es rund eine halbe Million Young Carer. Damit sind Kinder und Jugendliche gemeint, die sich regelmäßig um kranke oder hilfebedürftige Familienangehörige kümmern.

Obwohl es so viele junge Menschen betrifft, fehlt es häufig noch an Strukturen, um sie gut zu begleiten und aufzufangen. Das Pflegen und Kümmern beeinflusst die persönliche Entwicklung - und kann auch die schulische Laufbahn beeinträchtigen. Was brauchen Kinder und Jugendliche in dieser Care-Situation? Wie können Lehrer und Lehrerinnen sie unterstützen?

Das Sozialunternehmen famPlus bietet am 25. Juni um 14 Uhr ein Webinar für Lehrer und Lehrerinnen. Es wird veranstaltet in Kooperation mit der Kaufmännischen Krankenkasse KKH: Erfahrene Pflegeberaterinnen informieren rund um diese Thematik, vermitteln hilfreiches Wissen und bieten Austausch. Im Interview erklärt Viktoria Eiden, eine der Projekt-Initiatorinnen, was die besondere Situation von Young Carern ist, was Teilnehmende bei dem Vortrag erwartet und wie sie Kindern und Jugendlichen gut zur Seite stehen können.

Viktoria, warum habt ihr das Projekt ins Leben gerufen?

Ich bin seit vielen Jahren Pflegeberaterin bei famPlus und erlebe immer wieder, wie sehr Kinder und Jugendliche in Pflegesituationen in Familien einbezogen sind. Das kann sein, weil ein Geschwisterkind eine schwere Behinderung hat oder ein Elternteil plötzlich an Krebs erkrankt oder einen Schlaganfall erleidet. Die Kinder und Jugendlichen eint, dass sie in ihren Familien vielfältige Aufgaben übernehmen, um in dieser besonderen Situation zu unterstützen. In den aktuellen Strukturen werden diese Young Carer übersehen - und das kann Folgen haben.

Was ist die besondere Situation von Young Carern? 

Die Kinder und Jugendlichen erledigen vielfältige Aufgaben, etwa Einkaufen, kochen oder jüngere Geschwister betreuen. Im Grunde genommen sind das ja ganz normale Aufgaben, aber was auffällig ist, dass Young Carer diese Aufgaben in besonderem Maße übernehmen und dass sie viel Verantwortung tragen. Sie fühlen sich beispielsweise dafür verantwortlich, dass der Kühlschrank gefüllt ist oder dass die Mutter die Medikamente nimmt. Auch pflegerische Aufgaben wie beim Waschen oder Baden helfen oder die Begleitung zu Arzt- oder Behördengängen sind typisch.

Wie wirkt sich die Sorgearbeit auf die Kinder und Jugendlichen aus?

Das Pflegen und Kümmern prägt Kinder und Jugendliche stark. Das ist nicht nur negativ. Sie lernen so auch viel und entwickeln oft besondere Empathie. Aber besonders ist, dass Young Carer ihre eigenen Bedürfnisse oft zurückstecken - und das kann eben auch beeinträchtigen. Es fällt ihnen schwer, Freundschaften aufzubauen, Hobbys nachzugehen und auch schulische Leistungen können leiden. Die Pflegesituation kann körperlich und psychisch so stark belasten, dass Kinder und Jugendliche krank werden. Schlaf- und Essstörungen, auch andere psychische Störungen sowie psychosomatische Symptome wie Bauch-, Kopf- oder Rückenschmerzen sind nicht selten.

Was in der Familie geschieht, bleibt ja meist Privatsache. Wie kommt die Schule ins Spiel?

Es gibt ja die Schulpflicht und alle Kinder und Jugendlichen besuchen eine Schule. Klar, dort lernen sie. Aber Lehrer und Lehrerinnen haben auch eine Fürsorgepflicht. Es ist eine Aufgabe der Schule dafür zu sorgen, dass die Kinder gut lernen können. In vielen Schulen gibt es mittlerweile auch Psychologen oder Sozialarbeiter, die Kinder mit besonderen Herausforderungen zur Seite stehen. Das Thema Pflege steht hier noch außen vor, dabei zählen eine halbe Million Kinder und Jugendliche zu den Young Carern. So viele übernehmen regelmäßig pflegerische Aufgaben in der Familie. Damit sie dies gut tun können, brauchen sie Unterstützung und die Schule ist ein guter Ort, um sie zu erreichen, denn jedes Kind geht ja in die Schule.

Wie könnten Lehrer und Lehrerinnen denn unterstützen?

Zunächst mal wäre es hilfreich, wenn sie über die Situation zu Hause und die besondere Belastung Bescheid wissen. Es wird oft nicht darüber gesprochen, weder von Eltern noch den Kindern, weil damit Ängste einhergehen. Eine große Angst ist es etwa, dass Lehrer oder Lehrerinnen die häusliche Situation ans Jugendamt melden und die Kinder aus der Familie genommen werden. Dabei handelt es sich allerdings um ein Horrorszenario, das mit der Realität nichts gemein hat. Bis ein Kind aus einer Familie genommen wird, muss schon einiges passieren. Damit einem Kind und der Familie geholfen wird, wäre es aber wichtig, dass auch das Umfeld informiert ist und Hilfsangebote angeleiert werden.

Das heißt, das Thema ist gar nicht bekannt?

Nein, oftmals ist den Lehrern und Lehrerinnen die Situation gar nicht bekannt. Dazu kommt, dass Young Carer in der Regel auch eher überangepasst sind. Sie versuchen auf keinen Fall aufzufallen, kompensieren ihren Stress durch andere Maßnahmen. Sie versuchen die Fassade nach außen aufrecht zu halten. Und oft ist es auch der Wunsch, nicht illoyal gegenüber den Eltern oder Geschwistern zu sein. Über die Schwierigkeiten zu Hause zu sprechen, fühlt sich nämlich oft so an, als wären sie illoyal.

Ganz konkret: Womit könnten Lehrer und Lehrerinnen den Kindern und Jugendlichen in ihrer Situation helfen?

Es hängt immer von der individuellen Situation ab, wie Lehrer und Lehrerinnen helfen können. Es ist eine Aufgabe der Schule, eine Vertrauensbasis herzustellen und dem Schüler das Gefühl zu geben, dass seine Bedürfnisse richtig und auch wichtig sind. Oft werden Probleme erst sichtbar, wenn bei Kindern die Leistungen abfallen. Wenn sich die Noten verschlechtern, dann wird erst hingeschaut und nachgefragt. Dabei wäre es viel hilfreicher, früher anzusetzen. Dabei zu unterstützen, ein Netzwerk aufzubauen, Kontaktadressen für Pflegeberatung weitergeben oder auch mal bei Anträgen helfen. Mit dem Pflegen geht viel Bürokratie einher. Wenn die Schule Ansprechpartner oder Adressen von Beratungsstellen weitergibt, wäre das schon hilfreich.

Wer kann an dem Webinar teilnehmen?

Alle Lehrer und Lehrerinnen sind eingeladen. Auf Wunsch machen wir auch Vorträge vor Ort oder für einzelne Schulen.

Was erwartet die Teilnehmenden? 

Zuerst mal geben wir Informationen über die besondere Belastung, die Young Carer erleben. Wir klären auf, welche Folgen damit einhergehen können und wir möchten den Austausch unter Lehrenden ermöglichen. Statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse zwei Kinder, die pflegende und sorgende Angehörige sind. Damit sie ihre Aufgabe gut bewältigen können, brauchen sie Unterstützung - und manchmal genügen da schon kleine Dinge.

Was denn zum Beispiel?

Die Nachbarschaftshilfe zu aktivieren oder die Vernetzung untereinander fördern. Oftmals fehlt es Young Carern an Vorbildern und Gleichgesinnten. Sie fühlen sich sehr allein in ihrer Situation. Das Gespräch mit einem Vertrauenslehrer kann dabei schon guttun und zu erfahren, dass man mit all seinen Belastungen gesehen und wertgeschätzt wird. Kinder und Jugendliche, die pflegen, brauchen auch Auszeiten und einen Raum für sich. Auch hier könnten Lehrer und Lehrerinnen unterstützen. Die individuelle Situation der Kinder und Jugendliche sollte aber immer vertraulich behandelt werden.

Haben Lehrer und Lehrerinnen denn überhaupt so viel Handlungsspielraum?

Klar, da gibt es Begrenzungen und der Lehrstoff muss durchgenommen werden. Aber die Lehrer und Lehrerinnen haben auch Freiräume. So können Leistungsnachweise ja unterschiedlich erbracht werden. Wenn ich weiß, dass es am Tag vorher eine Notarzteinweisung gab, muss ich die Leistungsabfrage vielleicht nicht am folgenden Tag machen, sondern kann anders gestalten. Wir geben den Teilnehmenden im Webinar auch viel Gelegenheit, sich darüber auszutauschen, welche Möglichkeiten es gibt und womit sie gute Erfahrungen gemacht haben.

Hier können sich Lehrer und Lehrerinnen, Schulpsychologinnen und -sozialarbeiter anmelden. Das Webinar ist gratis und wird finanziert von der Kaufmännischen Krankenkasse KKH. https://famplus.de/gast/campus/18b70420

Mehr Infos: https://www.famplus.de/gast/angebot/pflegeberatung/young_carer 


Weitere Infos und Kontaktstellen:

Pflege Podcast der KKH zum Thema "Young Carers: junge Pflegende"

Projekt Pausentaste des Bundesfamilienministeriums www.pausentaste.de

Young Carer Coach www.youngcarercoach.de

Young Carer Atlas für Deutschland https://young-carer-hilfe.de/young-carer-junge-pflegende-atlas-deutschland

 

famPLUS - Kompetent im Pflegealltag

Wir beraten Sie individuell rund um das Thema Pflege und Vorsorge sowie zur Organisation der Versorgung in Ihrer Region. Sie können uns unter 089/8099027-00 jederzeit erreichen. Unsere Beratung steht allen Mitarbeitern unserer Kooperationspartner zur Verfügung.

Neues von famPLUS

Image

Gleichberechtigte Care-Arbeit: Es gibt noch (viel) zu tun

Wenn Paare Eltern werden, beginnt ein neues Kapitel voller Freude und Herausforderungen. Der Alltag verändert sich drastisch. Die Balance zwischen Erwerbsarbeit und Fürsorgearbeit stellt viele Paare vor große Aufgaben und alte Rollenbilder werden oft unbewusst wiederbelebt. Eine bewusste Auseinandersetzung mit diesen bietet die Chance für ein gleichberechtigteres, harmonischeres Familienleben.

Image

Regenbogenfamilien: Zwischen Vielfalt und Hürden

Das klassische Familienbild hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Neben traditionellen Familienmodellen rücken auch Regenbogenfamilien zunehmend in den Fokus. Diese Familienform, bestehend aus gleichgeschlechtlichen Eltern und ihren Kindern, ist mittlerweile ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Trotz ihrer wachsenden Akzeptanz stehen Regenbogenfamilien im Alltag vor besonderen Herausforderungen und Hürden.

Image

"Es wird Zeit, dass die Regierung die Familienstartzeit umsetzt"

"Bringen Sie die Familienstartzeit jetzt endlich auf den Weg!" - Das fordert ein Offener Brief an die Bundesregierung, unterzeichnet wurde er von 35 Verbänden und Unternehmen. Auch famPlus hat den Brief unterzeichnet. Dr. Enni Vaahtoranta von famPlus erklärt im Interview, warum mehr Unterstützung für Familien in den ersten Wochen nach der Geburt so wichtig ist und was die Familienstartzeit bewirken kann.