Neurodiversität am Arbeitsplatz - eine persönliche Geschichte

Neurodiversität am Arbeitsplatz: Eine persönliche Perspektive

In den letzten Jahren hat sich das Bewusstsein für Neurodiversität – die Anerkennung und Wertschätzung unterschiedlicher neurologischer Zustände wie Autismus, ADHS, Dyslexie und andere – deutlich erweitert. Dieser Wandel spiegelt sich zunehmend in der Arbeitswelt wider, wo Vielfalt nicht nur toleriert, sondern als Quelle von Stärke und Innovation begrüßt wird. Anhand der Geschichte von Alex (Name geändert), einer neurodiversen Person, die ihre einzigartigen Herausforderungen und Chancen in einem zunehmend neurodiversitätsbewussten Arbeitsumfeld navigiert, wird dieser Artikel die Facetten von Neurodiversität, die Unterstützungsstrukturen und den systemischen Ansatz in der modernen Arbeitswelt beleuchten.

Was bedeutet Neurodiversität und wo liegen ihre Ursprünge? 

Der Begriff "Neurodiversität" wurde erstmals in den 1990er Jahren von der australischen Sozialwissenschaftlerin Judy Singer geprägt und bezeichnet die Vielfalt der menschlichen Gehirne und geistigen Funktionen. Er steht für die Anerkennung und Wertschätzung von Menschen mit unterschiedlichen neurologischen Eigenschaften, wie zum Beispiel Autismus, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Dyslexie (Störung der Lesefähigkeit) und vielem mehr. Im Gegensatz zu früheren medizinischen Modellen, die Abweichungen von der Norm als Defizite oder Störungen betrachteten, betont die Neurodiversitätsbewegung die Vorstellung, dass neurologische Vielfalt ein natürlicher und wertvoller Bestandteil der menschlichen Gesellschaft ist.

Die Ursprünge der Neurodiversitätsbewegung lassen sich auf die Arbeit von Autisten zurückführen, die sich gegen eine pathologisierende Sichtweise ihrer eigenen Identität und Erfahrungen wehrten. Die Bewegung hat sich seitdem auf andere neurologische Unterschiede ausgedehnt und setzt sich für die Rechte und die Würde aller neurodiversen Menschen ein.

Die Geschichte von Alex 

Alex, mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum, betritt die Arbeitswelt mit einer Mischung aus Hoffnung und Sorge. Während Alex' außergewöhnliche Fähigkeiten in Mustererkennung und Detailgenauigkeit offensichtlich sind, stellen soziale Interaktionen und eine überreizende Büroumgebung bedeutende Hürden dar. Alex' Reise ist emblematisch für die Erfahrungen vieler neurodiverser Menschen, die in traditionellen Arbeitsumgebungen häufig übersehen oder missverstanden werden.

Frühe Karrierejahre sind für Alex eine Zeit des Lernens und der Anpassung. Interviews und Gruppendiskussionen, Standardverfahren vieler Einstellungsprozesse, fühlen sich wie unüberwindbare Barrieren an.

Selbst nach dem Eintritt in die Belegschaft gehen die Probleme weiter. Er erlebt vermehrt, dass ihn bestimmte Tätigkeiten mehr Anstrengung kosten als seinen KollegInnen. So ist es ihm schier unmöglich, in einem Raum mit vielen Menschen fokussiert und entspannt zu bleiben. Oft schafft er es dennoch, zu funktionieren. Dies fordert ihm allerdings so viel Kraft ab, dass er sich regelmäßig erschöpft fühlt. Auch strengen ihn laute Geräuschkulissen und zeitgleich auf ihn einwirkende verschiedenartige Sinnesreize extrem an. Ist er dagegen allein für sich, kann er sich wunderbar konzentrieren und viel ausdauernder und akribischer arbeiten als seine KollegInnen. Oft erlebt er in diesen Momenten einen echten Flow.

Von seiner Vorgesetzten erhält er das Feedback, er agiere im Umgang mit seinem Team und gegenüber Kunden ungeschickt oder sogar unklug. Oft frage er direkt nach, wie eine Aussage gemeint ist, vermutlich weil er das Gesagte ansonsten nicht richtig einordnen könne. Damit irritiere er allerdings sein Gegenüber. Bei Alex wächst der Wunsch nach einer Arbeitskultur, die seine individuellen Unterschiede anerkennt und unterstützt.

Die Wende kommt, als Alex' Unternehmen beginnt, die Bedeutung von Neurodiversität zu erkennen und gezielte Initiativen zur Unterstützung neurodiverser Mitarbeiter einführt. 

Im Rahmen dessen erhält er ein persönliches Coaching und erarbeitet sich Ideen, wie er mit der Thematik am Arbeitsplatz besser umgehen kann. Er nimmt Abstand von dem Plan, immerzu seine Kompensationsmuster zu optimieren, um jede gestellte Aufgabe optimal erfüllen zu können. Stattdessen will er offen mit seiner Chefin über seine Stärken und Schwächen sprechen.

Was Alex in seinem Coaching erfährt, ist Ressourcenorientierung. Dieser Ende der 1970er Jahre entwickelte Ansatz fordert nicht weiter, dass alle Menschen bestimmten Normanforderungen entsprechen müssen, sondern würdigt die individuellen Stärken und das Potential jedes/r Einzelnen und setzt diese dementsprechend ein. Mit zunehmender Sensibilisierung für Diversität – auch im Bereich Neurodiversität – kann dieser Denkansatz für alle Beteiligten ein Gewinn sein. Es erfordert allerdings die Bereitschaft zum Dialog auf Augenhöhe, zu Transparenz und Offenheit und den Willen, gemeinsam Lösungen zu finden.

Alex nutzt sein Coaching zur Selbstreflexion und erarbeitet sich eine Übersicht, eine Art Score Card, mit relevanten Faktoren, die seine Arbeitsfähigkeit unterstützen oder behindern. Auf einer Impact-Skala von -3 bis +3 nimmt er dann für jeden der Faktoren eine Gewichtung vor. Eine starke Geräuschkulisse bewertet er beispielsweise mit einem Wert von -3, sie ist also sehr bedeutsam und behindernd.

Er nutzt seine Score Card in der Folge für jede neue Herausforderung. Mit seiner persönlichen Einschätzung und Gewichtung erhält er einen guten Überblick darüber, inwieweit die Rahmenbedingungen und Arbeitsinhalte zu ihm passen. Anschließend kann er im Austausch mit seiner Chefin oder mit externen Auftraggebern eruieren, inwieweit bestimmte Aspekte für seine Bedürfnisse verhandelbar und anpassbar sind.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich Alex‘ Score-Card-Lösung wahrscheinlich völlig von der einer Person mit einer anderen neurodiversen Ausprägung, wie etwa ADHS unterscheidet. Dies verdeutlicht die Wichtigkeit einer individuellen, ressourcenorientierten Herangehensweise.

Nicht nur Alex mit seiner neurodiversen Ausprägung erhält Unterstützung. Auch seine Führungskraft und sein Team werden in einer Schulung sensibilisiert, um ein besseres Verständnis für Ihren Kollegen zu bekommen und sicherer im Umgang mit ihm zu werden.

Aber auch organisatorische Anpassungen wie flexible Arbeitsarrangements, angepasste Kommunikationswege und eine berücksichtigende Gestaltung der Arbeitsumgebung machen es Alex möglich, sein volles Potenzial zu entfalten.

Chancen für Alex und das Unternehmen

Mit den getroffenen Veränderungen öffnen sich neue Türen. Alex' Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen und Details zu erkennen, die anderen oft entgehen, werden zu einem unschätzbaren Vermögen für das Team. Projekte, die von Alex' einzigartigen Perspektiven profitieren, führen zu innovativen Lösungen und tragen dazu bei, das Unternehmen in seiner Branche hervorzuheben. Alex' Erfolg ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie die Einbeziehung und Wertschätzung von Neurodiversität nicht nur das Arbeitsleben einzelner Mitarbeiter verbessern, sondern auch einen bedeutenden Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten kann. Er ermutigt auch alle Betroffenen, selbstbewusst mit KollegInnen und Vorgesetzten in Dialog zu treten und sich gegebenenfalls externe Unterstützung in diesem Prozess zu suchen.

Fazit

Die Geschichte von Alex veranschaulicht die transformative Kraft von Neurodiversitätsinitiativen in der Arbeitswelt. Durch die Schaffung unterstützender Strukturen und die Förderung einer inklusiven Firmenkultur können Unternehmen nicht nur die Herausforderungen überwinden, denen sich neurodiverse Mitarbeiter gegenübersehen, sondern auch deren einzigartige Talente und Perspektiven nutzen. In einer Zeit, in der die Arbeitswelt zunehmend Vielfalt und Inklusion schätzt, bietet die Anerkennung von Neurodiversität eine Chance, die Grenzen dessen, was wir für möglich halten, zu erweitern und eine inklusivere, innovativere und gerechtere Zukunft für alle zu schaffen.

Die Entwicklung hin zu mehr Neurodiversität ist eng verknüpft mit Ressourcen- und Lösungsorientierung sowie Wertschätzung. Sie erfordert die Fähigkeit zu Perspektivenwechsel und Empathie. Dies alles sind Aspekte, die sich auch im systemischen Beratungs- und Therapieansatz wiederfinden, der den Menschen in der Wechselwirkung mit seiner Umwelt versteht. Indem ein Unternehmen eine Umgebung schafft, die die Stärken jedes Einzelnen betont und gleichzeitig Unterstützung in den Herausforderungen bietet, können alle Mitarbeitenden gedeihen.

Von Kerstin Blumoser


Quellen:

Neurodiversity as a Competitive Advantage in Harvard Business Review online. Zuletzt abgerufen am 05.04.2024 

Spektrum Kompakt 22/2023 – Neurodiversität – Vielfalt im Gehirn 

Neurodiversität in unserer Arbeitswelt tbd* Zuletzt aufgerufen am 05.04.2024

Flow@Work: Gehirngerecht führen – die besten Leute gewinnen und halten - Friederike Fabritius (2022), Campus Verlag

 

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