Aus der Ferne pflegen? Distance Caregiver

Aus der Ferne pflegen?

Als ihre Mutter die Diagnose Alzheimer bekam, war für Peggy Elfmann klar, dass sie sich auch kümmern und für sie da sein möchte. Wie kann das funktionieren im Alltag, wenn einen fast 400 Kilometer trennen? Hier berichtet sie über ihren Spagat und gibt Tipps zur Pflege auf Distanz

Kurz nach der Alzheimerdiagnose meiner Mama kamen wir als Familie zusammen. Wir wollten besprechen, wie es nun weitergehen könnte, obwohl wir eigentlich keine Ahnung hatten, wie es mit der Demenz weitergehen würde. Für mich und meinen Bruder war klar, dass wir für meine Mama da sein wollen und meinen Papa unterstützen werden. Aber könnte das aus der Ferne funktionieren? Wir beide waren Jahre zuvor weggezogen und hatten unseren Lebensmittelpunkt längst woanders, jeweils knapp 400 Kilometer entfernt. Den Job aufgeben und zurückziehen war keine Option. Meine Eltern bestärkten uns und sagten: „Ihr sollt nicht euer Leben aufgeben.“ Sie wollten ihre Heimat ebenfalls nicht verlassen – und so blieb alles beim Alten.

An der Wohnsituation hat sich in den vergangenen zehn Jahren nicht viel geändert, wohl aber an der Pflegesituation meiner Eltern. Denn natürlich ist die Demenz fortgeschritten und meine Mama benötigte immer mehr Unterstützung und Pflege. Mein Vater leistet dies im Alltag und ihn bezeichne ich als pflegenden Angehörigen. Ich hadere mit diesem Wort. Denn ich bin nicht diejenige, die täglich bei der Körperpflege und beim An- und Umziehen und all dem, was so ansteht, hilft. Aber doch leiste ich einen Beitrag.

Distance Care - Was heißt das?

Mit meiner Situation bin ich nicht allein. Laut dem Pflegereport der Barmer von 2018 wohnen sogar 14 Prozent der Hauptpflegepersonen weiter weg. Eine Studie zeigte, dass etwa jede*r Vierte ein Elternteil unterstützt und mindestens 25 Kilometer von den Eltern entfernt lebt. Experten vermuten, dass es in Zukunft noch mehr sogenannte Distance Caregiver geben wird.

Die Tätigkeiten der Distance Caregiver unterscheiden sich von denen der Angehörigen, die vor Ort unterstützen. Eigentlich kein Wunder, denn bei der täglichen Pflege kann man aus der Ferne nicht helfen. Daraus ergibt sich oftmals eine Zweiteilung der Aufgaben. Bei mir sieht das so aus:

1. Wenn ich bei meinen Eltern bin, dann helfe ich bei den üblichen pflegerischen Aufgaben wie Haarewaschen, Nägel schneiden und Unterstützen beim Essen.

2. Wenn ich nicht vor Ort bin, kümmere ich mich um Organisatorisches wie Recherchieren und Beantragen von Unterstützungsangeboten, Abstimmen mit Ärzten oder Pflegediensten.

Immer im Spagat

Die Pflegesituation aus der Ferne ist eine besondere und fühlt sich für mich oft wie ein Spagat an. Es ist ein Gefühl der Zerrissenheit – zwischen meinen Eltern, meiner Familie und meinem Job und mir selbst. Wenn ich bei meinen Kindern bin, denke ich, ich müsste öfter bei meinen Eltern sein. Wenn ich bei meinen Eltern bin, denke ich, dass meine Kinder mich bräuchten. Oft fühlt es sich an, als würde ich nie das Richtige tun, denn egal wo ich bin, perfekt wird es nie.

Darin liegt wohl eine der größten Herausforderungen – und sich darüber bewusst zu sein, bringt schon viel. Das Ziel, so sagte die famPLUS-Pflegeberaterin Annika Heinze im Podcast, sei, es gut genug zu machen und sich von seinen eigenen Ansprüchen nach Perfektion zu lösen. Dass das einfach ist, hat sie nicht gesagt. Das ist es auch nicht.

Was mir hilft? Mir bewusst Zeiten für meine Eltern (und für all die anderen Aufgaben) zu nehmen und mich dann auf die Situationen einzulassen. Wenn ich für meine Eltern aus der Ferne konkret etwas tun kann, zum Beispiel eine Einstiegshilfe fürs Auto zu kaufen oder einen Termin bei der Fußpflege auszumachen, dann kümmere ich mich. Aber ich versuche loszulassen von diesem dauernden „Ich könnte“ oder „Ich sollte“. Denn es fördert nur ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle, und damit helfe ich meinen Eltern auch nicht. Im Gegenteil, es nimmt mir nur die Freude an den Momenten mit meinen Kindern und sorgt für ein schlechtes Gefühl.

Und wenn ich dann bei meinen Eltern bin, lasse ich mich auf die Situation bei ihnen ein. Es hilft, sich zu überlegen, in welcher Rolle man unterwegs und welche Aufgaben man übernehmen kann – und wo die Grenzen liegen. Am besten schreibt man all diese Tätigkeiten mal auf und versucht sich ganz realistisch zu fragen: Was kann ich erledigen? Wann nehme ich mir dafür Zeit?

Im Austausch bleiben und Aufgaben aufteilen

Aus der Ferne bekommt man nicht alles mit, und es ist nicht immer leicht einzuschätzen, wo die Probleme liegen oder welche Unterstützungsleistungen notwendig wären. Mir war zum Beispiel lange nicht bewusst, wie schwer es meiner Mama fällt, Treppen zu gehen. Wenn ich mit meinem Papa telefoniert habe, hat er zwar gesagt, dass es manchmal anstrengend ist, aber das nicht weiter ausgeführt. Bei einem meiner Besuche habe ich gemerkt, welch große Probleme meine Mama hatte, abends die Treppe in den ersten Stock zu nehmen.

Von da an war klar, dass etwas passieren muss, aber was wäre die Lösung? Welche Möglichkeiten gibt es? Wie könnte man im Haus umbauen, damit meine Eltern dort weiter wohnen bleiben können? Solche Dinge lassen sich gut aus der Ferne recherchieren. Diese Aufgaben haben mein Bruder und ich meinem Papa abgenommen, genauso wie die Beantragung der Umbaumaßnahmen bei der Pflegekasse.

Ganz zentral beim Pflegen aus der Ferne ist es, sich regelmäßig auszutauschen. Was braucht die pflegebedürftige Person? Womit kann man die Hauptpflegeperson unterstützen? Nicht immer ist es das, von dem man meint, es wäre eine gute Lösung. Da hilft nur: miteinander sprechen. Und auch offen darüber zu reden, wer in der Familie (oder im Freundeskreis oder als externer Unterstützer) welche Aufgaben übernehmen kann.

Ein Pflege-Netzwerk aufbauen

Pflegen ist nichts, was man auf Dauer allein machen kann. Es tut immer gut, ein Netzwerk zu haben, besonders für Angehörige, die sich aus der Ferne kümmern, ist das wichtig. Denn zum einen lassen sich Aufgaben auf mehrere Schultern verteilen. Und zum anderen hat man Menschen in der Nähe, die im Notfall schnell für die pflegebedürftige Person da sein können.

„Was machen wir in einem Notfall?“, diese Sorge hat mich lange sehr beschäftigt. Ich hatte Angst davor, dass mein Papa zum Beispiel einen Unfall hat und ins Krankenhaus muss. Wer würde sich dann um meine Mama kümmern? Denn selbst wenn mein Bruder oder ich uns sofort auf den Weg zu ihr machen würden, so würden wir doch ein paar Stunden brauchen. Vor einem guten Jahr haben wir den ambulanten Pflegedienst hinzugezogen – und ein Hauptgrund für uns war, dass sie im Notfall sofort vor Ort sein könnten. Gerade für pflegende Angehörige in der Ferne können solche Netzwerkpartner eine gute Stütze für mögliche Notfälle sein.

Wer zum Pflege-Netzwerk gehört und wie umfangreich es ist, das ist individuell verschieden, weil jede Pflegesituation unterschiedlich ist. Mögliche Partner*innen sind: Ärzt*innen, Pflegedienst, Ehrenamtliche, Freunde, Bekannte, aber auch die Nachbarn können wichtige Helfer*innen sein. Dort die Handynummer oder einen Zweitschlüssel zu deponieren, kann schon helfen. Gut zu wissen: Für die Kommunikation mit Ärzt*innen, Pflegedienst und Pflegekasse braucht es eine Vorsorgevollmacht. Gut, wenn man sich früh darum kümmert und klärt, wer in der Vollmacht als Ansprechpartner*in eingesetzt wird.

Beratung nutzen

Auch für pflegende Angehörige aus der Ferne lohnt sich eine Beratung. Die Pflegeversicherung kann über Unterstützungsleistungen informieren und helfen, einen individuellen Pflegeplan aufzustellen. Manche Kassen bieten spezielle Schulungen oder Kurse für pflegende Angehörige – und die kann man aus der Ferne natürlich auch wahrnehmen. Für meine Familie waren und sind die Angebote der regionalen Alzheimer-Gesellschaften sehr hilfreich. Sie sind vor Ort gut vernetzt, können Angebote empfehlen und bieten Austausch mit anderen Angehörigen.

Und überhaupt: Sprechen hilft. Auch mit dem Chef oder der Chefin. Gerade in Zeiten von Homeoffice sind viele aufgeschlossen gegenüber flexiblen Arbeitsmodellen. Denn eines ist klar: Nur aus der Ferne pflegen funktioniert selten auf Dauer und man wird auch vor Ort gebraucht.

Text: Peggy Elfmann, 25.04.22

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