Wenn das eigene Kind ein Pflegefall ist

Pflegegeld für das eigene Kind

Manuela Bugdaycioglu ist zertifizierte Pflegeberaterin und Fachkraft für außerklinische Intensivpflege. Seit vielen Jahren berät sie Eltern bei der Beantragung eines Pflegegrades für ihr Kind. Sie weiß: „Fast alle Eltern, die mich kontaktieren, sind erstmal überrascht, dass auch Kinder einen Pflegegrad erhalten können. Insbesondere dann, wenn das Kind an einer seelischen oder psychischen Erkrankung leidet.“
Mit ihrem Beratungsangebot möchte sie vor allem die Eltern in dieser bedrückenden und anstrengenden (Anfangs)-zeit zumindest finanziell und organisatorisch entlasten.

Wir dürfen Manuela Bugdaycioglu als neues Crew-Mitglied bei famPLUS begrüßen und haben uns gleich einmal mit ihr unterhalten und einige interessante Einblicke in die Beantragung eines Pflegegrades für Kinder erhalten.

Manuela Bugdaycioglu

Frau Bugdaycioglu, warum sollte man davon Gebrauch machen, einen Pflegegrad für das eigene Kind zu beantragen?

Häufig ermöglicht das Pflegegeld, dass ein Elternteil die wöchentliche Arbeitszeit reduzieren kann, um mehr für das Kind da zu sein. Die Höhe des Pflegegeldes hängt dabei vom Pflegegrad ab. Je höher der Pflegegrad, desto höher das Pflegegeld. Mit dem Pflegegeld können aber auch Selbstzahler-Therapien, wie zum Beispiel eine Reittherapie oder ein Neurofeedback, finanziert werden. Darüber hinaus erhält man für ein Kind mit Pflegegrad leichter Zugang zu Hilfen wie Schulbegleitung, Kinder-Reha, Alltagsbegleitung und sozialpädagogischer Hilfe.

Viele Eltern befürchten Nachteile für ihr Kind, wenn es einen Pflegegrad bekommt.

Hier kann ich beruhigen: der Pflegegrad muss weder der Schule noch den Behörden mitgeteilt werden. Der einzige mir bekannte Nachteil ist, dass die Aufnahme in eine private Krankenversicherung wahrscheinlich nicht möglich ist. Aber meist ist dies schon allein aufgrund der Diagnose schwierig. Auch ohne einen Pflegegrad.

Welche Grundvoraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein Kind einen Pflegegrad erhält?

 Erstens muss der Pflege- und Betreuungsaufwand deutlich höher sein als bei einem gleichaltrigen, gesunden Kind. Wenn das Kind zum Beispiel Unterstützung beim Einnehmen von Medikamenten oder beim Gehen benötigt. Auch bei einem Kind mit ausgeprägtem ADHS, das bei jedem Schritt angeleitet und erinnert werden muss, ist eine Pflegegradeinstufung möglich.

Zweitens sollte die Diagnose schriftlich bestätigt sein. Bei der Begutachtung wird dies als „pflegebegründende Diagnose“ festgehalten.

 Drittens müssen die formellen Voraussetzungen gegeben sein: Der versicherte Elternteil muss in den zehn Jahren vor der Antragstellung mindestens zwei Jahre bei einer Pflegekasse versichert gewesen sein.

Wer legt den Pflegegrad fest?

Bei Pflichtversicherten wird der Pflegegrad durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen festgestellt. Bei privat Versicherten ist dafür der „Medicproof“ zuständig und bei der Knappschaft ist es die Aufgabe des eigenen sozialmedizinischen Dienstes.

Die Dienste kommen für eine bis eineinhalb Stunden zu den Antragsteller*innen nach Hause. Ich rate Eltern, sich von einer Fachkraft – einer Pflegeberater*in, dem Kinderpflegedienst oder den Pflegesachverständigern – begleiten zu lassen. Leider gibt es nur wenig Gutachter*innen, die sich mit Erkrankungen von Kindern gut auskennen und die Einschränkungen im nötigen Maß erfassen können.

Was genau bedeutet es, wenn mein Kind einen Pflegegrad zugestanden bekommt? 

Bei Pflegegrad 1 steht den Eltern ein Entlastungsbudget zur Verfügung. Dieses kann für die Betreuung des Kindes oder für hauswirtschaftliche Unterstützung genutzt werden. Auch besteht ab Pflegegrad 1 der Anspruch auf einen Zuschuss für „wohnunumfeldverbessernde Maßnahmen“, wie beispielsweise Türschwellen-Rampen für den Rollstuhl, abschließbare Fenster oder ein Badumbau.
Zusätzlich stehen jedem pflegebedürftigen Kind Pflegeverbrauchsmittel in Höhe von 40 Euro pro Monat zu. Davon können unter anderem Bettschutzeinlagen, Handschuhe und Desinfektionsmittel bezahlt werden.

Ab Pflegegrad 2 erhalten die Eltern das monatliche Pflegegeld sowie ein Budget zur „Verhinderungspflege“. Diese kann für die Betreuung durch eine andere Person oder für den Besuch eines Ferienlagers verwendet werden.

Soll ein Kind durch einen Pflegedienst oder in einer stationären Einrichtung versorgt werden, können „Sachleistungen“ bezogen werden. Die Versorgung wird direkt mit der Pflegekasse abgerechnet.

Wonach richten sich die Zuschüsse? Ist das Familieneinkommen entscheidend?

Alle Leistungen der Pflegekasse sind einkommensunabhängig. Auch auf Arbeitslosenhilfe darf das Pflegegeld nicht angerechnet werden und finanziell benachteiligte Familien können zusätzlich die Sozialhilfeleistung- „Hilfe zur Pflege“ - beantragen.

Gibt es einen Zuschuss für den Urlaub?

Leider nein. In Deutschland gibt es ausschließlich in Bayern einen Zuschuss für pflegende Angehörige. Der Freistaat zahlt jedem Pflegebedürftigen ab Pflegegrad 2 einmal jährlich 1000 Euro.

Gibt es auch eine Pflegegrad, wenn die Pflege palliativ ist? 

Ist das Kind im Hospiz, muss im Eilverfahren – innerhalb einer Woche – eine Entscheidung über den Pflegegrad getroffen werden.

Aber auch sonst gilt: „Ja“, denn gerade in dieser schwierigen Situation ist es enorm wichtig, dass die Eltern professionelle und entlastende Hilfe erhalten. Der/Die behandelnde Arzt/Ärztin kann in diesem Fall sogar eine palliative Versorgung verschreiben. Dann kümmert sich das Team der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) um die Sorgen und Bedürfnisse des Kindes und der Eltern.

Hat das Kind einen Pflegegrad zugestanden bekommen, sind die Eltern zu einer Pflegeberatung verpflichtet. Wie muss man sich das vorstellen?

Eltern eines Kindes mit Pflegegrad 1 können die Beratung nach §37 Absatz 3 SGB VI halbjährlich in Anspruch nehmen, sind aber nicht dazu verpflichtet.
Bei Pflegegrad 2 und 3 muss die Pflichtberatung halbjährlich, bei Pflegegrad 4 und 5 vierteljährlich stattfinden. In der Regel findet der circa einstündige Beratungsbesuch bei der Familie zu Hause statt.*

Ich finde es allerdings schade, dass man von einer Pflichtberatung spricht. Wenn sie von einem/einer guten Berater*in durchgeführt werden, können die Termine für die Eltern sehr hilfreich sein. Denn die Termine sind dafür da, alle Fragen und Unsicherheiten rund um die Versorgung und Betreuung zu besprechen und um sich wichtige Ansprechpartner*innen oder Lösungsmöglichkeiten aufzeigen zu lassen.

Wer kommt für diese Pflichtberatung auf?

Die Pflegekasse. Alle anerkannten unabhängigen Beratungsstellen bzw. Pflegeberater*innen rechnen die Beratungseinsätze direkt mit der gesetzlichen Pflegeversicherung ab. Bei privat Versicherten muss die Rechnung in Vorleistung beglichen und zur Erstattung bei der Krankenversicherung eingereicht werden.

Welche Möglichkeiten der Kinderbetreuung gibt es, wenn beide Eltern erwerbstätig sind?

Muss das Kind regelmäßig betreut werden, können die Eltern eine Betreuungsperson suchen und diese über die Verhinderungspflegeleistungen oder über den Entlastungsbetrag abrechnen. Sie können aber auch einen Betreuungsdienst beauftragen.

Auf jeden Fall sollte man sich über die regionalen Angebote von dem/der Pflegeberater*in informieren lassen.

Grundsätzlich hat aber jedes Kind das Recht auf die Teilhabe an Kindergarten und Schule, Ausbildung, etc.. Im besten Fall kann das Kind eine integrative Kita bzw. Schule besuchen. Bei Bedarf wird über die Jugendämter ein*e Integrationshelfer*in gestellt, welche*r das Kind in der Schule, im Hort oder in der Tagesstätte begleitet. Es kann aber auch eine heilpädagogische Tagesstätte in Frage kommen, in der therapeutische und sozialpädagogische Angebote stattfinden.

Benötigt das Kind nur zuhause eine „Pflegeperson in Rufnähe“, können sich die Eltern Unterstützung mittels Verhinderungspflegeleistungen, dem Pflegegeld oder anderen Entlastungsmöglichkeiten über beispielsweise einen familienentlastenden Dienst (FED) holen. Auch ein Kinderpflegedienst kann hier zum Einsatz kommen.

Für Kinder, die auf Heimbeatmung angewiesen oder anderweitig stets vital bedroht sind, besteht der Anspruch auf eine Eins-zu-Eins-Versorgung durch einen Intensivpflegedienst.

Frau Bugdaycioglu, vielen Dank für diese ausführlichen Informationen. Haben Sie noch einen letzten Tipp für unsere Leser*innen?

Ja. Zwei sogar.

Mein erster Tipp: Prüfen Sie, ob Ihr Kind einen Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis hat. Insbesondere dann, wenn ihr Kind einen Pflegegrad erhalten hat. Denn damit erhalten Sie weitere Vergünstigungen bei der Steuer und gewissen Alltagsaktivitäten.

Mein zweiter Tipp: Meine Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass Eltern gut abwägen müssen, wem sie von dem Pflegegrad erzählen. Nicht jede*r hat Verständnis dafür und im schlimmsten Fall bringt es Neider auf den Plan. Das ist traurig, aber leider immer wieder der Fall.

 

von Nicole Beste-Fopma

 

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